Die Schrift der Sehenden wird zwar von jedem Menschen etwas anders geschrieben, letzendlich handelt es sich aber um immer die gleichen Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen. In der Blindenschrift hingegen gibt es allein im Deutschen gleich vier bzw. eigentlich sogar fünf verschiedene Schriftformen, vier davon basieren auf Louis Brailles 6-Punkte-System und bauen aufeinander auf. Ich bin häufig daran gescheitert, Sehenden erfolgreich zu erklären, warum das so ist, trotzdem möchte ich in diesem Beitrag versuchen, zu erläutern, worin sich diese Schriftgrade unterscheiden und warum man sie überhaupt braucht.
Die Computerbraille
Starten wir gleich mit dem von den ursprünglichen sechs Punkten abweichenden Sonderfall: Als „Computerbraille“ bezeichnet man die Schrift, die man in der Regel liest, wenn man am Computer arbeitet. Damit ist sie die Schriftform, die im digitalen Zeitalter wohl am häufigsten vorkommt. Im Grunde handelt es sich bei der Computerbraille um für die Arbeit am Computer angepasste Basisschrift (siehe nächster Abschnitt). Bei der Computerbraille wird, wie bei der Schwarzschrift auch, jedes Zeichen und jeder Buchstabe ausgeschrieben. Gleichzeitig ist die Computerbraille das neueste Schriftsystem. Als die Computer eingeführt wurden, musste das Schriftsystem so angepasst werden, dass jedes Zeichen des Computers auch genau einem Braillezeichen entspricht. Wie wir im weiteren Verlauf des Beitrags noch erfahren, sind für ein groß geschriebenes Wort in der Schrift mit sechs Punkten zwei Zeichen erforderlich (der jeweilige Buchstabe mit einem vorangestellten Großschreibzeichen), genauso ist es beim Darstellen von Zahlen und bei diversen Sonderzeichen. Durch die zwei zusätzlichen Punkte stehen mehr Punktkombinationen zur Verfügung. Damit ist es ganz leicht möglich, mehr Sonderzeichen mit einer Punktkombination zu belegen oder Groß- und Kleinschreibung nur mit einem Zeichen darzustellen: Ein Buchstabe ohne Punkt 7 ist kleingeschrieben, ein Buchstabe mit Punkt 7 ist großgeschrieben. Wenn man eine Braillezeile besitzt (mehr zur Braillezeile gibt’s im Teil „Verschiedene Schreibmöglichkeiten“), schreibt man in der Regel auch Computerbraille darauf.
Die Basisschrift
Die Basisschrift ist die ursprüngliche Form der Brailleschrift, auf der alles andere aufbaut. Alle Buchstaben werden ausgeschrieben, für Großbuchstaben stellt man den Buchstaben ein spezielles Großschreibzeichen voran, wobei – und das ist in allen 6-Punkt-Schriftsystemen gängig – in professionell gedruckten Büchern häufig die Großschreibzeichen oft weggelassen werden, also einfach alles kleingeschrieben wird. Die Zahlen (1 bis 0) werden mit den Buchstaben a bis j + ein vorangestelltes Zahlenzeichen dargestellt. Die reine Basisschrift wird im Alltag so gut wie nie verwendet, aber letzendlich lernen sie alle, die Brailleschrift lernen, als erstes, um darauf basierend die Besonderheiten der anderen Braille-Varianten zu erarbeiten. Die nun folgenden Unterscheidungen basieren alle auf der Basisschrift und haben alle das Ziel, diese zu verkürzen.
Die Vollschrift
Die Vollschrift ist in puncto Kürzungsgrad die erste Abstufung. Im Vergleich zur Basisschrift werden hier häufig vorkommende Laute wie „sch“, „ei“ oder „au“ zu einem Zeichen zusammengezogen, wodurch der Text weniger Platz einnimmt. Für sehende Braillelerner*innen oft verwirrend: Was in Computerbraille die Zahlen sind (die da ja ohne Zahlenzeichen geschrieben werden), sind in der Vollschrift unsere Lautkürzungen (z. B. 4 =ch, 5 =sch, 1 =au, 0 =ie). Für mich ist aber immer gleich klar, in welchem Schriftsystem ich mich bewege, weshalb mich das überhaupt nicht irritiert.
Dass die Computerbraille-Zahlen in der Vollschrift etwas komplett anderes darstellen, ist für Sehende häufig nur schwer nachvollziehbar. Mir ist jedoch in der Regel schnell klar, welches Schriftsystem ich vorliegen habe.
Die Kurzschrift
Die Kurzschrift ist die Steigerung der Vollschrift. Hier werden die Kürzungszeichen der Vollschrift beibehalten, es kommen aber noch viel, viel mehr Kürzungen dazu. So gibt es neben den Lautzeichen für „au“, „ei“ oder „sch“ nun auch Zeichen für „en“, „al“ oder auch Doppelkonsonanten wie „ll“ oder „mm“. Zudem gibt es ein- und zweiformige Kürzungen, das bedeutet, dass ein oder zwei Zeichen ein ganzes Wort darstellen (der alleinstehende Buchstabe „a“ steht z. B. für das Wort „aber“, die Buchstaben „jr“ stehen für Jahr o. Ä.). Es gibt auch Zeichen für bestimmte Vorsilben wie „auf“ oder „vor“ oder Nachsilben wie „nis“ oder „schaft“.
Die Kurzschrift ist vor allem im Hinblick auf Papierbücher in Brailleschrift wichtig. Da die Punkte viel mehr Platz als die Schwarzschrift in Anspruch nehmen (sie haben immer eine Größe von 6 bis 7 mm, denn man muss sie ja gut ertasten können) und auf deutlich dickeres Papier gedruckt werden müssen, bekommt man nicht selten ein riesiges Paket mit etlichen Ordnern, wenn man ein Buch ausleiht oder kauft. Ein Text in Vollschrift kann durch den Einsatz der Kurzschrift um weitere 30 bis 40 Prozent verkürzt werden – kein Wunder, dass etwa 80 Prozent aller Bücher in Kurzschrift gedruckt werden..
Während meiner fünften und sechsten Klasse musste ich die Kurzschrift noch verpflichtend lernen. Viele meiner Mitschüler*innen haben das damals schon nicht ernstgenommen, weil es doch digitale Bücher für die Braillezeile gibt und die doch um Welten praktischer sind als die absolut reiseuntauglichen Papierbücher. Inzwischen ist das Erlernen der Kurzschrift zumindest an der Blindenschule, die ich besucht habe, nach meinem Kenntnisstand nicht mehr verpflichtend. Doch für alle Jugendlichen und Erwachsenen, die Papierbücher lesen möchten, ist die Kurzschrift ein Muss, da es ab einer bestimmten Altersstufe (meist ab etwa zwölf Jahren) keine Papierliteratur mehr in Vollschrift gibt. Aber achtung: Wer sagt, lesen fördert die Rechtschreibung, hat zumindest bei der Kurzschrift unrecht, denn bei so vielen Kürzungen bleibt von der eigentlichen Schreibweise des Wortes nicht mehr viel übrig.
Blindenstenografie
Früher dachte ich immer, die Kurzschrift sei unsere Steno, doch dem ist nicht so. Tatsächlich gibt es ein noch kürzeres (und noch wesentlich komplexeres) System, das sogar ganze Sätze und Redewendungen mit speziellen Kürzungen darstellt. Ich persönlich kenne niemanden, der diese Schrift beherrscht und ich weiß auch nicht, wie verbreitet sie in der heutigen Zeit noch ist, aber sie soll es ermöglichen, gesprochenes Wort in Echtzeit mitzuschreiben – wahrscheinlich wie die Stenografie für Sehende auch. Um Steno zu schreiben, braucht man eine spezielle Technik, den sogenannten „Streifenschreiber“, wobei ich Euch nicht erklären kann, wie dieser aussieht oder wie er funktioniert, und manchmal wird für die Steno auch ein 7- bzw. 8-Punkt-System benutzt.
Direkter Schriftvergleich
Zuletzt noch ein Beispielsatz, damit Ihr den Unterschied zwischen Computerbraille, Vollschrift und Kurzschrift noch besser versteht.
Computerbraille: So schreibe ich Blindenschrift im Jahr 2021.
Vollschrift (mit Großschreibzeichen): $so 5r3be i4 $blinden5rift im $jahr #bjba.
Kurzschrift (ohne Großschreibzeichen): p 5be # bl*dc5t – jr #bjba.