Autor: Kerstin Peters

  • Himmelsleiterlauf 2021: 1600 Stufen für einen Rennrollstuhl

    Eines der Wahrzeichen Heidelbergs ist der Königstuhl, der zentral im Stadtzentrum gelegene, 568 m hohe Hausberg. Eine Möglichkeit, um auf den Königstuhl zu gelangen, ist die sogenannte „Himmelsleiter“, eine Sandsteintreppe mit rund 1600 Stufen vom Heidelberger Schloss bis zum Gipfel. Und das Hinaufsteigen der Himmelsleiter lohnt sich zur Zeit doppelt: Durch den „Himmelsleiterlauf“, einen Spendenlauf, an dem man noch bis zum vierten Advent teilnehmen kann, soll ein Rennrollstuhl für einen körperbehinderten Triathleten finanziert werden. In diesem Beitrag erfahrt Ihr, wie das funktioniert und was ich dabei heute erlebt habe.

     

    Organisiert und durchgeführt wird der Himmelsleiterlauf vom „Heart Racer Team“. Das ist ein Verein, der jungen Menschen mit Behinderung den Triathlonsport ermöglichen möchte. So wurden beispielsweise auch unsere Triathlon-Trainings, an denen ich in der Blindenschule teilgenommen habe, vom Heart Racer Team organisiert. Seit 2012 werden durch den Himmelsleiterlauf Investitionen für Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung finanziert, dieses Jahr – wie bereits erwähnt – ein Rennrollstuhl für einen körperbehinderten Triathleten.

     

    Mitmachen ist ganz einfach: Unten am Start der Himmelsleiter gibt es ein Kästchen mit Postkarten. Jede mitlaufende Person holt sich eine Postkarte, füllt sie aus und nimmt sie mit nach oben. Am oberen Ende der Himmelsleiter befindet sich dann ein Briefkasten, in den die Karte eingeworfen wird. Für jeden absolvierten Lauf werden durch verschiedene Sponsoren aus Heidelberg, Schwetzingen und Wiesloch zehn Euro gespendet.

     

    Für mich war von Anfang an klar, dass ich einen Beitrag zu dieser Aktion leisten wollte. Jetzt kann ich aber blind nicht einfach mal an einem freien Nachmittag alleine losziehen. Da habe ich eine der Mitinitiatorinnen des Heart Racer Teams, die ich noch aus meiner Triathlon-Zeit kannte, kontaktiert und wie der Zufall es wollte, wollte eine Bekannte von ihr ohnehin dort laufen und war gerne bereit, mich bei dieser Gelegenheit kennenzulernen. Dass ich an ihrem geplanten Lauftag Urlaub hatte und die Bekannte gerade einmal zehn Autominuten von mir entfernt wohnte, machte die Sache dann perfekt.

     

    Und so fuhren wir heute, dem 16.12.2021, gemeinsam mit einem weiteren Bekannten von ihr, mit dem Auto nach Heidelberg zum Schloss. Für uns alle war es eine spannende Situation. Es ist ja immer etwas aufregend, mit Leuten unterwegs zu sein, die man zuvor noch nie persönlich getroffen hat – für mich als Blinde vielleicht nochmal im Besonderen, da dieses Vorhaben, allein schon aufgrund der auszufüllenden Postkarte, ohne sehende Unterstützung nicht umsetzbar wäre. Aber auch für die anderen beiden war das Zusammentreffen mit einer blinden Person etwas vollkommen Neues.

     

    So dauerte es einige Stufen, bis ich ein Gefühl dafür hatte, wie meine Begleiterin ihre Schritte setzt (ich hielt mich mit einer Hand an ihrem Rucksack fest, während ich mit der anderen Hand meinen Blindenstock unterstützend einsetzte) und bis wir herausgefunden hatten, was für Ansagen ich brauche und möchte. Das war aber wirklich nur eine kurze Findungsphase, und dann marschierten wir ganz selbstverständlich die Stufen hinauf. Konzentrieren musste ich mich durchaus, da die Stufen unterschiedlich breit und unterschiedlich hoch sind (Naturstufen eben), aber durch eine gute Kommunikation – nicht nur verbal, sondern auch über den Rucksack als physische Verbindung – fühlte ich mich durchgehend sehr wohl und war bis auf wenige Ausnahmefälle sehr trittsicher.

     

    Oben angekommen warfen wir dann unsere Postkarten ein, begeistert und dankbar, wie gut alles geklappt hat, bevor wir – diesmal aber über einen anderen, stufenfreien Weg – wieder runter zum Schloss spazierten und rundum zufrieden zurückfuhren.

     

    Es war eine super Erfahrung für mich, auf Leute zu treffen, die vollkommen offen und vorurteilsfrei auf mich zugegangen sind und die mich trotz meiner Blindheit ohne zu zögern mit in ihr Laufteam aufgenommen haben. Wir haben auf der Autofahrt schnell gemeinsame Gesprächsthemen gefunden und uns beim Laufen voll aufeinander eingelassen. Daher hat sich der Himmelsleiterlauf in jeder Hinsicht gelohnt – nicht nur, um einen Beitrag für die Finanzierung des Rennrollstuhls zu leisten. An dieser Stelle vielen Dank für die unkompizierte Zusammenarbeit und den äußerst kurzweiligen Nachmittag!

    Kerstin mit der Postkarte in der Hand am Startpunkt

    Kerstin und Barbara beim Einwerfen der Karte in den Briefkasten auf dem Königstuhl

     

  • 100 Jahre Naturfreundehaus Moosbronn

    Als vierter Auftritt in diesem Jahr stand am Sonntag, dem 13.09.2021, die musikalische Untermalung der Feier anlässlich des 100-jährigen „Geburtstags“ des Naturfreundehauses in Moosbronn an.

     

    Bereits um 07.00 Uhr morgens setzten mein Vater und ich uns mit vollem Equipment (Stage-Piano, Ukulele, Mikrofon, Mini-Soundanlage etc.) ins Auto und machten uns auf den Weg nach Moosbronn. Ursprünglich war Moosbronn ein kleines Dorf mit einer überregional bekannten Wallfahrtskirche genau auf der Grenze zwischen Baden und Württemberg, heute gehört es zu Freiolsheim, einem Stadtteil von Gaggenau, einer Stadt im Nordschwarzwald etwa 25 Kilometer südlich von Karlsruhe. Die Höhenlage (etwa 600 Meter über dem Meeresspiegel) mit viel Wald und Wiesen macht die Gegend für Wanderer, Rad- und Motorradfahrer sehr attraktiv – und das wusste man wohl schon 1921 zu schätzen, als das Naturfreundehaus eingeweiht wurde.

     

    Dieses erreichten wir dann nach etwas mehr als einer Dreiviertelstunde Fharzeit. Einige der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die bei den Feierlichkeiten mit anpackten (Tische und Bierbänke aufstellen, dekorieren, Flammkuchen- und Waffelteig vorbereiten und vieles mehr) hatten bereits von Samstag auf Sonntag in Moosbronn übernachtet und luden uns erstmal zum Frühstück ein. Gut gestärkt bauten wir alles auf und da nach dem Soundcheck noch etwas Zeit blieb, machten mein Vater und ich noch einen Spaziergang, wobei ich das Einsingen inmitten der Natur, nur mit den Pferden der nahegelegenen Koppel als Zuhörer und frischer Schwarzwaldluft, schnell zu schätzen lernte.

     

    Um 11.00 Uhr ging es schließlich los. Da ich selbst nicht genau wusste, wie man sich meinen Auftritt vorstellte, war ich heute sehr flexibel eingestimmt. Zwischen den Festreden diverser Vertreter der Gemeinde, des Vorstands der Naturfreunde etc. bediente ich mich zunächst an meinen Instrumentalstücken, später an ein paar Standards mit Gesang, wobei ich gerade hier versuchte, die Gäste aktiv bei mir zu halten und die kleine musikalische Auflockerung zwischen den Reden möglichst effektiv zu nutzen. Ein Highlight war sicherlich mein während einer besonders langen Rede spontan getextetes (und letzendlich halb improvisiertes), individuell auf das Haus abgestimmtes Jubiläumslied. Und spätestens, als mir bei „Das Leben geht weiter“ an der sehr passenden Textstelle „Das Leben geht weiter, egal was passiert“ mein Klavierpedal unter den Füßen wegrutschte, war klar: Ohne Spontanität ging heute gar nichts.

     

    Als musikalischen Abschluss wurde der Wunsch an mich herangetragen, dass es doch schön wäre, gemeinsam noch ein traditionelles Naturfreundelied zu singen. Wie man mich kennt, war ich natürlich – obwohl ich das Lied zuvor nicht kannte – sehr offen und so konnte ich zwar kaum den Text mitsingen, die Begleitung klappte aber und so hat – Dank einiger textsicherer Naturfreunde – auch das super funktioniert.

     

    Im Anschluss konnte man etwas essen und trinken und miteinander ins Gespräch kommen. Ich wurde unter anderem von einem Journalisten der Badischen Neuesten Nachrichten interviewt (wobei wir jedoch die meiste Zeit lebhaft über das Ukulelespiel fachsimpelten und uns begeistert von den Jam Sessions erzählten, an denen wir bislang teilgenommen haben) und ließ mir von einem Naturfreundemitglied aus Namibia etwas über die dortigen Aktivitäten der Naturfreunde erzählen. Fast nebenbei bauten wir meine Sachen ab und verstauten sie wieder im Auto.

     

    Es war ein angenehmer Einsatz, der mir mal wieder gezeigt hat, dass ich mich – zumindest auf meine Standards – verlassen kann und dass es sich manchmal lohnt, mutig zu sein und einfach mal anzufangen – einmal mehr war das spontanste und ungeübteste Lied das Lied, zu dem ich am meisten Feedback bekam. Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei meinen Vater, der mir bei den diesjährigen Auftritten regelmäßig tatkräftig beim Auf- und Abbau von E-Piano, Mikrofon etc. geholfen, mich geduldig von A nach B gefahren und als Techniker und Fotograf vor und hinter der Bühne einen hervorragenden Job gemacht hat – ohne diese Unterstützung wäre mir vieles nicht möglich gewesen!

    Kerstin am Piano vor dem Naturfreundehaus Moosbronn

  • Ausbildung inklusiv – So ging es weiter

    Im September 2019 habe ich meine Ausbildung im mittleren Verwaltungsdienst begonnen, Anfang Januar 2020 habe ich über die ersten Monate berichtet. Den ersten Teil zu meiner „Ausbildung inklusiv“ findet Ihr hier

    Heute möchte ich Euch erzählen, wie es weiterging, welche Erfahrungen ich noch machen durfte, welchen Einfluss die Corona-Pandemie auf meine Prüfungsvorbereitung hattte und ob ich die Ausbildung am Ende geschafft habe.

     

    Viele praktische Einblicke

    Wie ich bereits im ersten Teil erzählt habe, wechselte ich während meiner Ausbildung alle paar Wochen innerhalb meiner Ausbildungsbehörde die Abteilung, um möglichst viele Bereiche der Verwaltung praktisch kennenzulernen. Vor den Wechseln hatte ich mal mehr, mal weniger Mobilitätstraining (ein Weg war ziemlich übungsintensiv, einen anderen Weg brachte ich mir nahezu komplett in Eigenregie bei und ein dritter Weg war durch eine Baustelle gefühlt jeden Tag anders, sodass Mobilitätstraining da nur bedingt was brachte). Die Praxisphasen selber waren sehr abwechslungsreich und vielseitig. Ich habe nicht nur wahnsinnig viel gelernt, sondern durfte mich auch an ganz unterschiedlichen Aufgaben versuchen, sei es an der Bearbeitung von Widersprüchen zu verschiedenen Themen oder am Sortieren, Erfassen und Verwalten von Rechnungen. In der Abteilung „Flüchtlingsangelegenheiten“ durfte ich auch bei der Taschengeldausgabe mithelfen und einige Tage im Ankunftszentrum in Heidelberg verbringen.

    Herausfordernd gestaltete sich während meiner Praxisphasen vor allem die Arbeit mit ganz unterschiedlichen Fachprogrammen, wobei von mit Screenreader nicht bedienbar bis vollständig barrierefrei alles vertreten war. Hier mussten immer wieder Probleme gelöst und Alternativen gefunden werden: Ein Programm musste die Assistenz für mich bedienen, weil da mit dem Screenreader, sobald man die Anwendung geöffnet hatte, nichts mehr zu machen war, ein Programm ließ sich über die Braillezeile wunderbar steuern, aber die Sprachausgabe sagte gar nichts an, das nächste Programm war bedienbar, wenn man nur wusste, wie (konkret: die teilweise sehr versteckten Optionen gefunden und alle Dialogfelder und Auswahlschalter (die nicht beschriftet waren) auswendig gelernt hatte) und bei einem weiteren Programm galt es, Möglichkeiten zu finden, um die Zeiteffizienz zu steigern (weil vieles mit dem Screenreader zwar sehr gut nutzbar, aber manchmal hinsichtlich des Programmaufbaus und der Anordnung der einzelnen Elemente ziemlich umständlich gelöst war). Ein weiteres Problem (zumindest für mich) war die Zeit. Im ersten Teil schrieb ich in meinem Fazit nur beiläufig sowas wie „Ich brauche manchmal etwas länger, aber es klappt ja“. Rückblickend betrachtet war das etwas, wo ich meine Blindheit mal wieder sehr deutlich merkte – und damit ein schwieriger, aber auch sehr wichtiger Lernprozess. So sehr mir die Ausbildung dabei half, meine Blindheit wieder als Teil von mir zu sehen und zu erfahren, wie viel ohne Assistenz geht, von dem ich anfangs dachte, das würde nicht gehen, so sehr brachte sie mich beim Thema Zeit an meine Grenzen. Hier bekam ich erstmal so richtig mit, welche Macht eine Computermaus hat oder wie viel Text ein Sehender gleichzeitig erfassen kann. Bestes Beispiel: In einem Praxisabschnitt musste ich anhand von Daten, die in einer Excel-Tabelle erfasst wurden, in zwei Fachprogrammen Datensätze anlegen. Dafür musste ich zunächst den Inhalt der Excel-Tabelle erfassen und vorsortieren, dann alle Eintragungen nacheinander in den Fachprogrammen vornehmen, dabei zwischen den verschiedenen Fenstern hin- und hernavigieren, den Überblick behalten … Wenn man sich die Excel-Tabelle ausdruckt und mit zwei Bildschirmen in beiden Fachprogrammen parallel die Datensätze erstellen kann (und sich durch die Computermaus noch dazu etliche Navigationsschritte spart), dann befinden wir uns zeitlich auf einem vollkommen anderen Niveau. Meine Kollegen haben die Situation immer sofort verstanden (wofür ich sehr dankbar bin), aber für mich war das immer wieder frustrierend und in manchen Momenten habe ich meine Blindheit echt verflucht. Kurzum: Bis ich akzeptiert hatte, dass manches einfach nicht so schnell wie bei den sehenden Kollegen geht, war es ein langer Weg …

     

    Genau im richtigen Moment

    Erinnert Ihr Euch noch an meinen doch recht verzweifelten Hilferuf, als ich im März 2020, eine halbe Woche vor Beginn eines neuen Schulblocks und nach einer assistenztechnisch bereits ziemlich turbulenten Praxisphase, plötzlich komplett ohne Assistenzkraft dastand und nicht wusste, wer mir die anstehenden Klassenarbeiten etc. übertragen würde? Alles sah nach Ungewissheit und Chaos aus – und exakt zum ersten Schultag jenes Schulblocks wurde der erste Corona-Lockdown verhängt und wir hatten Homeschooling. Wie für alle war das auch für mich im ersten Moment eine Nachricht, die viele Fragen aufwarf, letzendlich war es jedoch ein Glücksfall. Alle Klassenarbeiten wurden auf unbestimmte Zeit verschoben (und schlussendlich gar nicht mehr geschrieben) und die „normalen“ Arbeitsblätter waren ja nicht so sensibel, sodass ich diese (ich konnte mir daheim die Zeit recht frei einteilen, da wir hauptsächlich Aufgaben und Infoblätter zum Selbststudium bekamen) mit meinem Vater kurzerhand selbst aufbereitete. Ziemlich ungeschickt war nur, dass wir teilweise Fotos von Buchseiten etc. bekamen, die von der Texterkennung nicht umgesetzt werden konnten, und dass der in unsere Stundenplan-App integrierte, für Blinde nicht bedienbare Messenger auf einmal das zentrale Kommunikationsmedium wurde, weshalb ich manche Informationen deutlich verspätet oder gar nicht erhielt …

     

    Die Vorzüge des Online-Unterrichts

    Beim Prüfungsvorbereitungslehrgang in der Verwaltungsschule, der von Januar bis Juni dieses Jahres stattfand, war dahingehend einiges einfacher und ich konnte die Vorzüge des durchgehenden Online-Unterrichts in vollen Zügen genießen – und das nicht nur deshalb, weil ich wieder eine Assistenzkraft hatte. Während die Dozenten sonst ihre Ausdrucke immer im Unterricht verteilt hatten, schickten sie diese nun an alle per Mail, weshalb wir so gut wie nie im Unterricht nach benötigten, aber fehlenden Unterlagen suchen oder daran erinnern mussten, dass meine Assistenz die Unterlagen rechtzeitig vor dem Unterricht braucht. So fiel meine Blindheit überhaupt nicht auf und es war für viele Dozenten eine ziemliche Überraschung, als sie Ende März (man muss dazu sagen, der Lehrgang begann Mitte Januar…) eine Mail hinsichtlich des Nachteilsausgleichs in den Übungsklausuren erhielten – sowas passiert definitiv nur im Online-Unterricht!

    Auch abgesehen von der wesentlich erleichterten Dateiübertragung hatte der Online-Unterricht seine Vorteile: Als wir zu Beginn der Berufsschule noch Präsenzunterricht hatten, haben mich Arbeitsaufträge oft in Stress gebracht, weil ich in manchen Fächern einfach nicht mit dem Tempo meiner Mitazubis mithalten konnte und ich natürlich gemerkt habe, wie viel schneller sie sind. Alleine daheim hatte ich schon bald ein Gefühl dafür, wie lang ich für welche Aufgabenart brauchte, wusste meist sehr genau, ob es Sinn machte, die Lösung zu einem Sachverhalt auszuschreiben oder vielleicht lieber nur stichpunktartig vorzugehen und die genaue Ausformulierung nach Unterrichtsende zu rekonstruieren und konnte das dann auch zwanglos und ohne Druck genau so umsetzen, wie es für mich am besten war. Und Dank eines festen Stundenplans und einem gut bedienbaren, übersichtlichen Konferenzsystem klappte auch die Kommunikation untereinander diesmal problemlos.

     

    Die Prüfungen

    Es gab insgesamt zehn schriftliche Prüfungen, vier davon Mitte April und die anderen sechs Ende Juni/Anfang Juli. Es wurden verschiedene Fächer geprüft, größtenteils rechtliche Fächer wie z. B. Verwaltungsrecht, Beamtenrecht oder Sozialrecht. Die Absprache hinsichtlich des für diese Prüfungen, die nun wirklich in die Ausbildungs-Abschlussnote zählten, erforderlichen Nachteilsausgleichs war diesmal etwas formeller als in der Berufsschule, und die Prüfungen selbst wurden nicht von der Assistenz, sondern vom Textservice in Ilvesheim aufbereitet und auf verschlüsselten Sticks an die Prüfungsbehörde gegeben. Meinen Laptop habe ich vor den Prüfungen komplett leergeräumt, und neben einem Laptop-Check vor Ort schrieb ich – begleitet von meiner Assistenz und einer Prüfungsaufsicht – alleine in einem Raum, da meine Start- und Endzeiten aufgrund des Nachteilsausgleiches doch sehr stark von den regulären Zeiten abwichen.

    Anstatt der Gesetzessammlung auf Papier verwendete ich eine digitale Fassung speziell für Menschen mit Sehbehinderung. Diese digitale Gesetzessammlung kann man sich ungefähr wie eine Internetseite vorstellen, auf der man in den einzelnen Hierarchieebenen des Inhaltsverzeichnisses oder auch in den Gesetzen selbst blättern oder aber nach Gesetzen, Paragraphen oder Stichworten suchen kann, nur mit dem Unterschied, dass ich dafür keine Internetverbindung brauchte, sondern das entsprechende Tool zu Beginn des Lehrgangs über eine CD direkt auf meinen Laptop installierte. Ein Unterschied zu den sehenden Mitazubis war, dass ich weder farbliche Markierungen noch Unterstreichungen oder Ähnliches vornehmen und auch keine Verweise machen konnte. Jedoch war das am Ende das kleinste Problem, im Gegenteil, meine Verweise und Paragraphen im Kopf zu haben und diese nicht auswendig, aber doch recht gut zu kennen, machte mich von der Assistenz auch hier weitgehend unabhängig, was für mich ja in allen Bereichen der Ausbildung sehr wichtig war.

     

    Und jetzt?

    Jetzt hatte ich gestern noch meine mündliche Prüfung, den letzten Schritt in der Ausbildung, und es freut mich riesig, dass meine Prüfungsergebnisse gut genug waren und ich damit meine Ausbildung erfolgreich abschließen konnte. Es ist unglaublich, wie schnell diese beiden Jahre jetzt vergangen sind! Sie waren extrem wertvoll für mich, manchmal auch herausfordernd, aber oft war es einfach nur erstaunlich zu sehen, wie sich vieles miteinander zu etwas Wunderbarem zusammengefügt hat. Bemerkenswert ist einmal mehr, wie reibungslos alles verlief. Gerade bei einer solchen Ausbildung wirken so viele Parteien mit: Die Mitarbeitenden in den verschiedenen Ausbildungsstellen, die Assistenzkraft, die betreuende Sonderschullehrerin, der Textservice, der KVJS als Kostenträger für Hilfsmittel, Mobitraining etc., die Mobilitätstrainerin, die Mitazubis, die Lehrkräfte an Berufs- und Verwaltungsschule – und ich habe sicher noch viele weitere vergessen. Ich kenne so viele Blinde, die versucht haben/versuchen, einen solchen oder ähnlichen Weg einzuschlagen und die an einer oder gleich mehreren Stellen auf Hürden gestoßen sind. Wie das hier lief, ist ein absoluter Ausnahmefall und ein Vorbild, dass (und vor allem auch wie) eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt auch blind gelingen kann – und ja, das zwischenzeitliche Durcheinander zwecks Assistenzkraft im ersten Lehrjahr war ein Stolperstein, aber im Nachhinein bin ich mir sicher, dass wir das gemeinsam auch noch gemeistert hätten, auch wenn kein Corona gekommen wäre. Vor zwei Jahren hatte ich keine Ahnung, wie es werden würde, und jetzt bin ich einfach nur unendlich dankbar für alles, für alle, die ihren Teil dazu beigetragen haben, für die Offenheit und Hilfsbereitschaft von allen Seiten, für die vielen Erfahrungen, die ich machen durfte – DANKE!

    Und um zuletzt die Frage „Und jetzt?“ zu beantworten: Ich wurde von meiner Ausbildungsbehörde in einen Bereich übernommen, in dem alle Arbeitsabläufe digital abgewickelt werden, in dem das Fachprogramm funktioniert und in dem auch sonst einfach eins zum anderen passt, sodass ich vollkommen selbstständig und gleichberechtigt (naja, da wir die Computermäuse ja nicht unterschätzen dürfen, vielleicht etwas langsamer als die anderen, aber ich werde mich und meine Arbeitsweise weiter reflektieren und überlegen, was sich wo und wie vielleicht noch optimieren lässt) arbeiten kann – ganz selbstverständlich und ohne Assistenz.

  • Auftritt mit dem Citymobil auf dem Kronenplatz in Karlsruhe

    Am Freitag, den 30.07.2021, stand mein nächster Auftritt an – diesmal auf dem Karlsruher Kronenplatz mit dem Citymobil.

     

    Das Citymobil ist ein alter Lieferwagen, dessen Ladefläche zu einer mobilen Bühne umfunktioniert wurde. Früher wurden damit bei „Das Fest“, dem wohl größten und bekanntesten Festival in Karlsruhe, Getränke transportiert, aber jetzt, wo das Fest durch Corona ausfällt, bringt das Citymobil bekannte und weniger bekannte regionale Musiker und Bands zu den Menschen in den Alltag, indem es in den Sommermonaten durch die Stadt tourt und an verschiedenen Plätzen Halt macht – wie an jenem Freitag auf dem Kronenplatz.

     

    Ursprünglich sollte ich zwei kurze Sets von jeweils ca. 20 Minuten spielen, eins um 15.00 Uhr und eins um 16.00 Uhr. Letzendlich kam alles etwas anders: Zunächst waren wir um 15.20 Uhr erst auftrittsbereit, dann mussten wir aufgrund eines Soundchecks auf einer anderen in der Nähe aufgebauten Bühne (die etwas größer und daher auch wesentlich lauter als das Citymobil war) erst miteinander klären, wann denn wer spielen darf. Schlussendlich entfiel mein erstes Set komplett und ich machte nur ein Set um 16.00 Uhr.

     

    Nach dem Zusammenschluss meiner zwei kurzen Sets zu einem etwas längeren Set bestand mein Programm aus acht Liedern, darunter Lieder, die ich eher selten spiele, absolute Standards, Instrumentalstücke, fröhliche, aber auch tiefgründigere Titel. Ich habe mich auf der mobilen Bühne vom ersten Moment an total wohlgefühlt und die Soundkulisse war so gut wie selten bei Auftritten. Das Publikum bestand hauptsächlich aus Passanten, die zufällig vorbeikamen, ich hatte also von Zeit zu Zeit wechselnde Zuhörer – mal mehr, mal weniger –, was zwar mit einer erstaunlich ruhigen Atmosphäre, aber auch mit entsprechend Bewegung um die Bühne herum einherging.

     

    Im Anschluss kamen mit Gondhi und Evia noch zwei weitere Nachwuchs-Acts und ich genoss es sehr, nach meinem eigenen Auftritt noch den anderen zuzuhören. Abgesehen von unserer Musik mit dem Citymobil wurde mit „Nichts wie raus!“ auch ein Kunstprojekt des Jugendbegegnungszentrums vorgestellt. Unter anderem wurde ein umgebautes, mit sehr viel Elektronik versehenes Fahrrad präsentiert, mit dem eine Vielzahl verschiedenster Töne und Klänge erzeugt werden konnte, was ich ziemlich beeindruckend fand. Passend dazu startete am Abend auf dem Kronenplatz noch eine Fahrraddemonstration und es gab verschiedene, ebenfalls vom Jubez organisierte künstlerische Angebote.

     

    Es war viel Leben auf dem Kronenplatz an jenem Freitagnachmittag und überall gab es etwas zu entdecken. Mein Highlight war aber das tolle Feeling auf der Bühne des Citymobils. Es ist eine Bühne mit besonderem Charme, auf der ich – sollte sich eine entsprechende Möglichkeit ergeben – sehr gerne nochmal spielen würde.

    Kerstin auf dem Citymobil beim Soundcheck

    Kerstin am E-Piano während des Auftritts

    Nach einem ereignisreichen Tag wird die Ladefläche des Citymobils wieder hochgeklappt.

  • „Kultur in der Natur“ 2021

    Am Sonntag, den 27.06.2021, gestaltete ich gemeinsam mit zwei anderen Musikerinnen die Veranstaltung „Kultur in der Natur“ am Naturfreundehaus in Karlsruhe-Rappenwört. Ich wusste von Anfang an, dass es ein besonderer Auftritt werden würde. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass wir wirklich mitten in der Natur musizieren würden. Das Motto „Klassik, Pop, et cetera“ ließ auch musikalisch einiges offen …

     

    Eine Woche vor der Veranstaltung lernte ich die beiden Mitmusikerinnen, Kathrin und Johanna, kennen. Wir spielten uns gegenseitig unsere geplanten Stücke vor und besprachen den genauen Ablauf. Dabei traf es zumindest Klassik und Pop ziemlich gut: Die beiden spielten als Duo mit Bratsche und Klavier hauptsächlich klassische Musik, meine Lieder hingegen lassen sich sicherlich nicht der Klassik zuordnen … Trotzdem verstanden wir uns von Anfang an super und hatten uns schnell aufeinander eingestimmt.

     

    Nach einem ausgiebigen Soundcheck am Vortag (mit unerwartet vielen spontanen Zuhörern der nahegelegenen Außengastronomie …) ging es dann am 27.06. um 11.00 Uhr los. Wir trugen unsere Lieder abwechselnd vor und ergänzten uns in den Moderationen spontan. Mein diesmaliges Repertoire umfasste mit „Rainy day“ und meinem kleinen Walzer in c-dur zwei bereits gut geübte Instrumentalstücke, die weniger weit von den klassischen Stücken der Mitmusikerinnen entfernt lagen als ich zunächst dachte. Etwas bei diesem Auftritt Unverzichtbares und entsprechend Besonderes war „Music at the river“: Die Textzeile „I sing with the birds together my song“ tatsächlich mit den Vögeln gemeinsam zu singen und mit der Lage nur wenige Meter von Altrhein und Rhein entfernt im wahrsten Sinne des Wortes „music at the river“ zu machen, hatte durchaus etwas Berührendes.

     

    Ziemlich herausfordernd, aber ebenfalls besonders war, dass wir mit „Die Forelle“ von Franz Schubert auch etwas gemeinsam vortrugen. Herausfordernd war es deshalb, weil ich noch nie zuvor ein klassisches Lied gesungen hatte und ich dahingehend absolut unerfahren war, geschweige denn entsprechende Gesangstechniken anwenden konnte. Doch vielleicht machen gerade solche Aktionen, in denen man trotz eigentlich völlig unterschiedlicher musikalischer Kenntnisse und Erfahrungen miteinander agiert, den Reiz des gemeinsamen Musizierens aus. Nicht zuletzt waren Kathrin und Johanna der Grund, dass ich am Ende noch meine Ukulele auspackte und mit „Never forever alone“ einen absoluten Standard meiner Auftritte spielte, der aber auch hier voll Wirkung zeigte und eine fröhliche, fast ausgelassene Stimmung aufkommen ließ.

     

    Und wo blieb nun das „et cetera“, nach so viel Klassik und Pop? Das gab es dann in der Zugabe in Form des Volksliedes „Die Gedanken sind frei“, bei dem wir vom Publikum tatkräftig beim Singen unterstützt wurden.

     

    Es war ein komisches Gefühl, nach 1 1/2 Jahren wieder vor anwesendem Publikum zu spielen. Um ehrlich zu sein merkte ich dahingehend eindeutig, dass ich aus der Übung war – gerade gesanglich fühlte ich mich wesentlich unsicherer als vor Corona. Die Atmosphäre jedoch war einmalig. Am Klavier zu sitzen und außer seinem eigenen Spiel nur Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes zu hören, hat wahrlich etwas Einzigartiges, und so viele nette und interessante Gespräche im Anschluss führen zu dürfen, war einfach schön. Ich liebe die Musik und ich liebe die Natur – und diese Veranstaltung ist das beste Beispiel dafür, wie man beides miteinander verbinden kann.

  • Livestream anlässlich des Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung

    Am 05.05. setzen Menschen mit und ohne Behinderung in ganz Europa jedes Jahr ein Zeichen für Gleichberechtigung und Toleranz. Gemeinsam machen sie auf Barrieren im Alltag aufmerksam und versuchen gleichzeitig, Vorurteile und mögliche Hemmschwellen gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen. Ich beteiligte mich in diesem Zusammenhang dieses Jahr am Livestream des Jugendbegegnungszentrums Karlsruhe.

     

    Am Mittwoch, den 05.05.2021, bin ich auf etwa 17.30 Uhr zum Jubez gefahren. Bevor ich in den Saal, von dem aus der Stream übertragen werden sollte, durfte, musste ich einen Corona-Test machen, was zum Glück aber direkt vor Ort ging. Etwas später saß ich auf der Bühne und richtete mit dem Tontechniker E-Piano, Gesangsmikrofon und Ukulele so ein, dass ich alles gut hören konnte. Außerdem nutzte ich die Zeit, um mich etwas einzusingen und die Ukulele zu stimmen.

     

    Je näher der Start des Streams rückte, desto mehr stieg die Spannung. Jetzt musste alles passen. Als Mitte April klar war, dass ich daran mitwirken würde, musste ich schnell feststellen, dass ich ziemlich aus der Übung war. Viele meiner Lieder hatte ich seit Monaten nicht mehr gespielt. Ich versuchte, die drei Wochen, die mir blieben, möglichst produktiv zu nutzen und mich in eine wenigstens einigermaßen akzeptable musikalische Form zurückzuholen, doch ob mir das gelungen war, konnte ich nicht so recht einschätzen. Auch die Erfahrung eines Auftritts per Livestream war für mich vollkommen neu. Bislang wusste ich immer, in welcher Richtung die Leute sitzen, wie viele ungefähr da sind, wie die Stimmung ist, hier wusste ich noch nicht einmal genau, was auf dem Handy- oder Computerbildschirm von mir zu sehen war. Auch die Kommunikation mit den Zuhörenden, die in gewöhnlichen Auftrittssituationen für mich essenziell ist, gestaltete sich hier ganz anders.

     

    Nach einer kurzen Begrüßung gab man die Bühne für mich frei. Mein Programm bestand aus vier Liedern mit dem E-Piano und zwei Liedern mit der Ukulele. Zwischen den Liedern wurde ich über das Geschehen im Live-Chat informiert und konnte verbal entsprechend darauf eingehen. Ich war total überwältigt von so viel positiver Resonanz und freute mich darüber, auch die ein oder andere Frage im Zusammenhang mit meiner Blindheit beantworten zu können. Nach meinem Auftritt gab es auf der Bühne eine kleine Umbauphase, während der ich mich noch etwas mit dem Sprecher der Zwischenmoderation unterhielt, erst über den Auftritt, dann über digitale Barrierefreiheit und zuletzt darüber, dass Inklusion und Gleichberechtigung wunderbar verwirklicht werden können, wenn man nur offen aufeinander zugeht.

     

    Auf der Bühne übernahmen Julie, Paul, Daniel, Malek und Maxime, die den Livestream komplettierten. Die fünf fanden sich bei einer Jam Session im „Cola Taxi Okay“ zusammen und musizierenen seither immer mal wieder (sofern es denn möglich ist) gemeinsam. Das „Cola Taxi Okay“ ist ein offener Kulturraum, der sich Weltoffenheit und die Integration von Menschen jeglicher Nationalität, z. B. Geflüchteter, zum Ziel gesetzt hat. Julie und Paul leiten außerdem eine inklusive Trommelgruppe im Jubez. Besonders an ihrer Musik war, dass – abgesehen von ein paar Grundharmonien, die vorab vereinbart wurden – alles spontan entstand: Der Text, die Melodie, die Länge und der Charakter des Liedes. Diese Magie des Entstehens aus dem Moment heraus beeindruckte mich und war ein gelungener Abschluss eines Livestreams mit klarer Botschaft: Wenn wir füreinander offen sind – egal wer wir sind, wo wir herkommen, ob wir eine Behinderung haben oder nicht – ist vieles möglich!

     

    Der Livestream war eine völlig neue, durchaus aufregende und sehr spannende Erfahrung. Manches war wirklich ungewohnt, aber es hat mir viel Spaß gemacht und es war schön, mal wieder andere Musiker zu treffen und zwischendrin sogar etwas Zeit zu haben, um sich ein bisschen auszutauschen. Wie ich später in den Stream nochmal reinhörte, war ich begeistert von der mehr als gelungenen Abmischung und der Soundqualität. Natürlich hoffe ich, dass wir ganz bald wieder mit Präsenz-Publikum musizieren können – aber auch der virtuelle Weg war auf jeden Fall eine Erfahrung wert!

  • Die Stadt und ich – von guten und schlechten Tagen und drei persönlichen Wünschen, damit die guten Tage noch mehr überwiegen

    Mitte Januar beschlossen wir, meine Teamkolleg/innen und ich von unserem Gemeinschaftsblog „Anders und doch gleich“, mal wieder eine Blogparade zu starten. Unser Thema: „So sieht meine Traumstadt aus“. Es war für mich klar, dass ich mit gutem Beispiel vorangehen und einen entsprechenden Beitrag auf meiner Seite veröffentlichen wollte. Das Problem dabei: Einerseits verzettelte ich mich völlig in meinen Ansätzen, aber andererseits fand ich auch nichts so gut, dass ich mich darauf spezialisieren wollte. Schließlich löschte ich meine Sammlung und fing nochmal ganz neu an – sehr persönlich, aber auch für mich selbst sehr aufschlussreich, denn: Manchmal klappt das mit dem Gang durch die Innenstadt richtig gut, aber manchmal ist es – und zwar nicht nur aus blindenspezifischer Sicht betrachtet – für mich unglaublich anstrengend.

     

    Die schlechten Tage

    Es gibt Tage, da hasse ich die Stadt. Jede Ampel, die auf dem Weg steht und noch nicht mal einen Piep von sich gibt, nervt mich, denn dann muss ich Passanten fragen, ob ich über die Straße gehen kann. Wenn ich dann auf 200 Metern Wegstrecke fünf E-Rollern auf dem Gehweg ausweichen muss und der sechste mich fast über den Haufen fährt, weil ich ihn nicht höre und der Fahrer mich nicht sieht, würde ich meinen Blindenstock manchmal gerne zum Schlagstock umfunktionieren. Und allgemein steht überall Zeug rum, seien es Tische, Stühle, Werbeplakate oder – das macht die besten Beulen – Straßenlaternen und andere Pfosten, sodass ich auf die Wegweiser „Zum Stadtzentrum“ manchmal am liebsten „Zum Hindernisparcours“ schreiben würde.

    Um mich herum Menschen, wohin man hört, die hektisch von A nach B hetzen (dem entsprechend  unentspannt sind die von diesen Menschen ausgehenden Schwingungen dazu), Menschen, die am Wegesrand sitzen und mich mit Trauer und Sorge darüber nachdenken lassen, welche Geschichten, Erfahrungen, Gefühle sich hinter ihrer Fassade verbergen, wohl wissend, dass ich nichts für sie tun kann, was mich mitunter emotional ziemlich runterzieht. Dazu Autohupen, klapperndes Geschirr, piepende Alarmanlagen, rauschende Lüftungen … Duftende Brötchen … Stinkende Abgase … Eine Jacke auf einem Kleiderständer, die meine Schulter streift … Und kein Entkommen aus diesem Meer an Reizen, kein Platz und Raum, um aus der Unübersichtlichkeit und Hektik auszubrechen und mich wieder zu sortieren … Ach, wie sehr wünsche ich mir in solchen Momenten, dass mich jemand begleitet, damit ich mich nicht so sehr auf alles konzentrieren muss …

     

    Die guten Tage

    Es gibt aber auch Tage, da freue ich mich schon beim Aufstehen auf meinen Ausflug in die Stadt. Dann laufe ich seelenruhig durch die Einkaufsstraße und nehme jeden Geruch, jedes Geräusch, jede Schwingung neugierig in mich auf. Wenn ich etwas interessant finde, wie beispielsweise einen Straßenmusiker, bleibe ich stehen, um den Eindruck zu fossieren, und manchmal beginne ich ein Gespräch, um mehr über diese Menschen und ihre Musik zu erfahren. Ich höre spannende, berührende und auch sehr erschütternde Geschichten, doch an solchen Tagen bleibe ich bei den dramatischsten Schilderungen gelassen, denn ich bin stark genug, um mich davon abzugrenzen. Auch wenn ich heute an einer Kreuzung von vier gleich gut oder schlecht taktilen Leitlinien stehe und keine Ahnung habe, welche davon wohin führt, gehe ich offen auf die Leute um mich herum zu, denn ich stehe zu meiner Blindheit und jede Begegnung schenkt mir eine weitere Erfahrung – und mit dem Willen, Barrierefreiheit zu ermöglichen, ist ja schon ein großer Schritt getan.

    Vielleicht freue ich mich gerade auf die Herausforderung, eine blinde Freundin zu treffen und sie sicher durch die für sie fremde Umgebung zu führen. Vielleicht bin ich auch auf dem Weg in eines meiner Lieblingscafés, um Abstand zu meinen üblichen Aufenthaltsorten zu gewinnen, zu entspannen oder intensiv über etwas nachzudenken. Egal, wohin es geht: Ich bin voller Tatendrang, möchte alle Eindrücke mitnehmen, alles erfahren und erleben, was mir auf meinem Weg begegnet.

    An solchen Tagen fühle ich mich weder behindert noch zu sensibel, denn dann gibt mir die Stadt ein Umfeld, in dem ich die Kraft, die Freude, den Mut und das Vertrauen in mich selbst und meine Mitmenschen habe, um mich trotz und mit meiner Behinderung und meinem Charakter und den damit verbundenen Schwierigkeiten und Bedürfnissen wohlzufühlen. An solchen Tagen heißt es: Neugier statt Reizüberflutung und Gelassenheit statt Frustration – möge es mehr von diesen Tagen geben!

     

    Drei Wünsche für zukünftige Stadttouren

    1. Dass die Stadt noch mehr zu einem Ort wird, an dem ich mich als Blinde selbstständig und sicher bewegen kann. Es ist in den vergangenen Jahren dahingehend eine enorme Entwicklung erfolgt, gerade in puncto blindenfreundlichen Ampeln und Blindenleitsystemen, z. B. an Bahnhaltestellen oder teilweise auch an Zugängen zu wichtigen Gebäuden, z. B. manchen behördlichen Einrichtungen oder Gebäuden der Universität. Trotzdem erfordert ein unbegleiteter Gang durch die innerstädtischen Straßen häufig immer noch viel Konzentration, weil sehr viele Hindernisse im Weg stehen (manchmal sogar auf Leitstreifen) und ein Ausweichen, je nach dem, wie viele Leute unterwegs sind, nicht immer leicht ist.
    2. Dass die Menschen achtsamer sind. Wenn wir alle nicht in unserer schnelllebigen Welt von A nach B hetzen, sondern uns mehr Zeit nehmen und noch mehr aufeinander achten, bekommt die Stadt eine viel ruhigere und angenehmere Atmosphäre und vieles, was aus akustischer wie feinfühliger Perspektive für mich in der Hektik vieler Menschen um mich herum oft undurchsichtig und überfordernd erscheint, wäre für mich vielleicht besser verfolg- und verarbeitbar.
    3. Dass es Orte gibt, an die ich mich zurückziehen kann, wenn es zu viel wird. Ich denke da beispielsweise an den Schlosspark in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum (wobei auch dieser im Sommer ziemlich überlaufen ist). Ich stelle mir kleine Natur- bzw. Ruheoasen vor, idealerweise etwas abseits des Trubels wie z. B. in einem Hinterhof o. Ä., wo ich einfach kurz durchatmen kann, um mich dann wieder mit neuer Energie dem pulsierenden Leben um mich herum zu stellen.

     

    Hinweis: Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Blogparade „Meine Traumstadt der Zukunft“ des Blogs „Anders und doch gleich“, an dem ich ebenfalls mitwirke:

    https://www.andersunddochgleich.de/2021/01/14/blogparade-traumstadt/

  • Abenteuer Braille – Teil 5: Eine kinderleichte Zusammenfassung

    Als Abschluss meiner Artikelserie habe ich Euch einen ganz alten Text mitgebracht, den ich in meiner zweiten Klasse geschrieben habe. Damals habe ich für einen Tag die zweite Klasse einer allgemeinen Grundschule besucht, um den sehenden Kindern meine Blindheit näherzubringen. Damit sich die Kinder schon mal auf den Besuch vorbereiten konnten, habe ich Texte über meinen Alltag in der Blindenschule, das Leben im Internat und über die Blindenschrift geschrieben. Letzteren stelle ich heute hier ein – und mit den Informationen der letzten Wochen könnt Ihr ihn bestimmt verstehen.

     

    Wie blinde Kinder lesen und schreiben

    Hallo ich heiße Kerstin. In dieser Geschichte geht es darum, wie blinde Kinder lesen und schreiben. Meine Schrift sieht ganz anders aus als eure. Eure Schwarzschrift besteht aus Zeichen. Meine Schrift nennt man Punktschrift, Blindenschrift oder   Brailleschrift. Diese Schrift besteht aus Punkten. Die Punktschrift hat der Franzose louis Braille 1825 erfunden.

    In der 1., 2. und 3. Klasse schreibt man mit der Elotype. Die Elotype ist eine elektrische Schreibmaschine. Sie wird teilweise aber auch 8-Punkt-Maschine genannt.

    In der 4. Klasse lernt man die 6-Punktschrift. Ich habe sie mir aber schon in der 1. Klasse selber beigebracht, weil ich unbedingt die Bücher in der Bücherei lesen wollte. Bei dieser Schrift gibt es verschiedene andere Zeichen wie z.B.: au =1, eu =2, ei =3, ch =4, sch =5, ie =0, Großbuchstabenzeichen =$, Zahlenzeichen =#. Es gibt auch eine 6-Punkt-Maschine. Diese ist nicht elektrisch und man verwendet sie auch oft in Mathematik.

    Ab der 3. Klasse werde ich lernen, mit dem Computer zu schreiben. Die älteren Schüler machen alles mit dem Computer und haben mir sogar schon ein paar Sachen beigebracht. Am Computer ist eine Braillezeile, auf der sie schreiben und lesen.

    Und es gibt noch eine 6-Punktschrift mit noch mehr Kürzungen, die lernt man aber leider erst in der 5. Klasse. In der Bücherei gibt es viele Bücher in dieser 6-Punktschrift, aber ich darf sie noch nicht lernen, weil die Bücher noch zu schwierig für mich sind.

    Übrigens: Die Elotype ist auch ein Brailleschrift-Drucker. Wenn man etwas  in Punktschrift auf den Computer schreibt, kann man das in Brailleschrift ausdrucken. Ich habe Elotype, Perkins und Computer. Diese Geschichte habe ich auf dem Computer geschrieben und auf der Elotype ausgedruckt.

  • Abenteuer Braille – Teil 4: Was die Blindenschrift für mich bedeutet

    Manche Blinden finden die Brailleschrift im Hinblick auf all die technischen Möglichkeiten, die wir Blinden heutzutage haben, nutzlos. Ich persönlich bin jedoch froh, sie benutzen zu dürfen und erachte sie auch weiterhin als sehr wichtig. Deshalb habe ich heute ein paar Beispiele gesammelt, in welchen Alltagsbereichen die Brailleschrift für mich von Bedeutung ist.

     

    Beschriften von Dingen

    Es gibt viele Möglichkeiten, um sich Dinge wie Gewürzdosen, CD’s oder Ähnliches zu kennzeichnen. Eine dieser Möglichkeiten ist die Beschriftung in Braille. Ich denke da an meine CD’s, die ich im Internat in der Blindenschule hatte oder an die Gewürzgläser, die in der Schulküche standen. Braille-Beschriftungen sind präzise und z. B. beim Einsatz in der Küche verhindert man dadurch, dass alternative elektronische Hilfsmittel dreckig werden.

     

    Lesen im Beruf und in der Freizeit

    Wenn man am Computer sitzt, ist die Verlockung groß, sich alles mit der Sprachausgabe vorlesen zu lassen – ich gebe es ehrlich zu: Auch ich mache sehr viel über die Sprachausgabe, da es häufig einfach die schnellere Methode ist. Gerade in meinem letzten Praxisabschnitt in der Ausbildung gab es aber manchmal Situationen, in denen die Braillezeile für mich aufgrund der Wiedergabe der Inhalte durch die Sprachausgabe unverzichtbar war, um optimal navigieren zu können und die für mich relevanten Inhalte wirklich zuverlässig zu erfassen. Auch in der Freizeit lese ich gerne, wenn ich dazu komme, vor allem Papierbücher. Die Kurzschrift ist dabei unerlässlich, aber wenn man sie kann, ist jedes Mal wieder ein spannendes Lese-Erlebnis garantiert! Und soll ich Euch noch ein Geheimnis verraten? Wenn ich, als ich noch jünger war, ins Bett sollte, aber doch noch gar nicht müde war, holte ich mir einfach eine schöne Geschichte in Brailleschrift und vergrub sie mitsamt meiner Finger unter meiner Bettdecke – und da ich dafür noch nicht mal Licht brauchte und mit der Zeit sehr geübt darin wurde, die Papierseiten leise umzublättern, wurde ich nur sehr selten dabei erwischt …

     

    Die Blindenschrift unterwegs

    Meine private Braillezeile kann auch ohne den Computer benutzt werden. Dabei werden alle Dateien auf einer SD-Karte gespeichert. Die Braillezeile ist für alle, die Blindenschrift beherrschen, ein hervorragendes Notizgerät für unterwegs. Gerade während der Prüfungsphase vor meinem Realschulabschluss sah man mich quasi täglich mit meiner Braillezeile mal übers Schulgelände laufend, mal auf einer Bank am Neckar sitzend lernen – einfach genial! Manchmal ist es auch praktisch, die Braillezeile per Bluetooth mit dem Handy zu koppeln, was ich besonders gerne mache, wenn ich längere Nachrichten oder E-Mails schreiben möchte. Für manche Taubblinden ist die Braillezeile das wichtigste Kommunikationsmittel.

     

    Blindenschrift im öffentlichen Raum

    Die Blindenschrift gleicht an manchen Stellen auch im öffentlichen Raum Barrieren aus. Das beste Beispiel dafür sind Medikamentenpackungen, die häufig mit Blindenschrift versehen sind. Auch wenn man sich das Treppengeländer an Bahnhöfen mal anschaut, kann man immer wieder Blindenschriftbeschriftungen, die mir Auskunft darüber geben, wohin die entsprechende Treppe führt, finden. Nicht zuletzt gibt es beispielsweise in Heidelberg auf dem Karlsplatz einen großen taktilen Plan der Kernstadt, der ebenfalls mit Blindenschrift versehen ist.

     

    Ich finde die Brailleschrift auch in einer Zeit, in dem die technischen Möglichkeiten einen enormen Aufschwung erleben, extrem wichtig. Es wäre doch furchtbar, wenn blind auch gleichzeitig Analphabet bedeuten würde! Für mich ist es ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, wie sehende Menschen lesen und schreiben zu können. Dies unterstreichen auch die Statements blinder Kinder, die der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband anlässlich des Weltbrailletages am 4. Januar 2021 veröffentlicht hat:

  • Abenteuer Braille – Teil 3: Verschiedene Schreibmöglichkeiten

    Wenn Sehende sich etwas aufschreiben möchten, nehmen sie ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand. Doch was, wenn man mit Schwarzschrift nichts anfangen kann? Ich zeige Euch heute verschiedene Möglichkeiten auf, um Brailleschrift zu schreiben.

     

    Die Braillezeile

    Für die Braillezeile lässt sich keine einheitliche Beschreibung geben, da es viele verschiedene Modelle vieler verschiedener Firmen gibt. Eines haben alle Braillezeilen gemeinsam: Sie lassen sich an einen Computer anschließen. Ansonsten weichen die Möglichkeiten aber stark voneinander ab: Mit manchen Geräten kann man nur lesen, das Schreiben muss dann über die Computertastatur erfolgen. Die Geräte, mit denen man schreiben kann, beinhalten zusätzlich zur Zeile selbst eine Computerbraille-Tastatur. Manche solcher Braillezeilen können auch ohne Computer eingesetzt werden, z. B. durch den Einsatz einer SD-Karte, auf der man Bücher oder andere Dokumente abspeichern und neue Dokumente, beispielsweise Notizen, erstellen kann. Über manche Braillezeilen kann man per Bluetooth auch das Handy steuern – die Vielfalt ist dahingegehend also wirklich groß.

    Die Braille Edge ist meine private Braillezeile.

    Die Focus 40 Blue benutze ich beruflich. Sie sieht ganz anders aus als die Braille Edge. Im Gegensatz zur Braille Edge ist sie an einen Laptop angeschlossen.

     

    Die Elotype

    Die Elotype ist eine elektrische Schreibmaschine, die auf das Schreiben von Computerbraille ausgelegt ist. Daneben kann man sie auch mit dem Computer verbinden und als Blindenschriftdrucker benutzen. Zudem gibt es die Möglichkeit, durch das Verstellen des Zeilenabstands und das Anpassen der Seitenränder das Papier ein bisschen zu „formatieren“.

    Elotype mit eingespanntem Papier.

     

    Die Perkins

    Eine Schreibmaschine, in die man, wie auch bei der Elotype, zum Schreiben ein Blatt Papier einspannen kann, ist die Perkins. Die Funktionen der Maschine sind sehr schlicht: Eine Tastatur, mit der nur Voll- oder Kurzschrift geschrieben werden kann, da die Punkte 7 und 8 nicht vorhanden sind, eine Leertaste und zwei Tasten, mit denen man eine Zeile nach unten beziehungsweise zum vorherigen Zeichen navigieren kann. Mit dieser Maschine lässt sich auch dickeres Papier gut mit Blindenschrift versehen und auch Blätter, die nicht dem typischen Din A4-Format entsprechen, lassen sich gut einspannen. Im Unterschied zur Elotype funktioniert die Perkins vollkommen mechanisch. Neben der Perkins gibt es noch weitere Maschinen mit ähnlichem Funktionsumfang.

    Die Perkins mit einem beschriebenen Blatt.

     

    Die Sticheltafel

    Ganz altmodisch, aber dafür sehr handlich ist die Sticheltafel. Diese kann man aufklappen und ein Papier hineinlegen. Häufig gibt es vorgefertigte Blätter, die genau in die Tafel hineinpassen. Die Tafel ist von kleinen Löchern geprägt. Jedes Loch ist für ein Zeichen und besteht aus sechs kleineren Löchern, die den sechs Punkten entsprechen. Mit einem speziellen Stift kann man nun in die Löcher hineinstechen. Dadurch wird das Gestochene durchgedrückt und ist später auf dem Papier fühlbar. Damit man den Text auch lesen kann, muss man spiegelverkehrt von rechts nach links schreiben – das erfordert einiges an Geduld! Wenn man es jedoch kann, ermöglicht einem das Gerät, mal ganz altmodisch eine Postkarte an eine blinde Freundin zu senden, ohne eine unhandliche Schreibmaschine mit sich herumtragen zu müssen.

    Die Sticheltafel mit Griffel.

     

    Sicherlich habe ich das ein oder andere Schreibgerät vergessen – und ja, der Computer ist heutzutage mit Abstand das gängigste diesbezügliche Hilfsmittel. Trotzdem ist es wichtig, auch die anderen Möglichkeiten zu kennen, um selbst entscheiden zu können, mit was man wann arbeiten möchte. Letztens habe ich beispielsweise für eine taktile Straßenkarte mit der Elotype eine Legende erstellt, und die vorgeschnittenen Blätter für die tastbaren Weihnachtsgrußkarten an meine blinden Freundinnen habe ich zum Beschreiben kurzerhand in die Perkins eingespannt.