Autor: Kerstin Peters

  • Zipp und Local Handicap Night – Ein Abend voller Kunst und Musik

    Am Freitag, den 11. Oktober 2019, fand im Jugendbegegnungszentrum Karlsruhe mit „Zipp“, dem Austauschformat der hauseigenen Werkstatt, und der Local Handicap Night ein bunter Abend voller Kunst und Musik mit und von Menschen mit Handicap statt.

    Der künstlerische Teil bestand aus zwei Vernissagen, die ich musikalisch untermalte. Zuerst stand die Vernissage der künstlerischen Werke zum Thema „Mode“ aus der Werkstatt des Jubez unten im Foyer an. Da ich recht früh dort war, bot sich mir die Möglichkeit, die dort ausgestellten Objekte zu ertasten und eine kleine „Privatführung“ zu bekommen, bei der mich auch teilweise eine an der Ausstellung mitwirkende Künstlerin begleitete. Im Laufe der Zeit kamen mir so bunte Collagen aus verschiedensten Stoffresten unter die Finger. Auch alle gemalten Bilder wurden mit Farben gemalt, die für mich fühlbar waren, wodurch ich auch hier die Motive nachvollziehen konnte. Diese Kunstausstellung lohnt sich auf jeden Fall auch für Blinde!
    Um 18.00 Uhr ging es dann ans Klavier, an dem ich die Vernissage eröffnete. Anschließend erzählten Organisatoren und Künstler etwas zu den dargestellten Dingen, bevor ich mit meinem musikalischen Beitrag die Vorstellung wieder beendete.

    Während die Besucherinnen und Besucher noch Gelegenheit hatten, sich die Bilder in Ruhe anzuschauen, ging es für mich schon mal hoch in den kleinen Saal zum Flügel. Als alle allmählich dort eintrafen, eröffnete ich abermals die dort stattfindende Vernissage. Hier wurden Bilder des Künstlers Michael Herrmann ausgestellt, welcher selbst ein Handicap hat. Er hatte eine Rede über seinen Talker Vorbereitet, durch die man erfuhr, wie er seine Bilder malt und was ihn dazu inspiriert. Durch ganz viele einzelne Linien entstehen hier ganze Stadtansichten und Naturlandschaften. Auch diesmal durfte ich die Vernissage wieder musikalisch beenden.

    Für mich persönlich war dieser Auftritt deshalb sehr spannend, weil ich, da ich zwar grob, aber nicht genau wusste, was auf den Bildern zu sehen ist, nicht vorab meine Lieder planen konnte und es daher heute auf Spontanität ankam. Manchmal wusste ich eine Minute, bevor ich spielen sollte, noch nicht, was ich spielen wollte und entschied mich manchmal erst in dem Moment, als ich das entsprechende Signal bekam. Das Ergebnis war eine interessante Mischung aus „Standards“ und Stücken, die ich nur selten bei Auftritten spiele. Ein besonderes Highlight war sicher „Life secret“, eines meiner „Neuzugänge“, welches ich ganz nach dem Motto „No risc, no fun“ vortrug.

    Im Anschluss standen im Rahmen der Local Handicap Night drei regionale Bands von Menschen mit und ohne Behinderung und eine inklusive Tanzgruppe auf der Bühne. Den Anfang machten die Musiccaps, eine Band von Kindern und Jugendlichen, deren Freude an der Musik sofort auf das Publikum übersprang. Auch „Dickes Blech“, eine Band der Lebenshilfe Karlsruhe, die schon seit mehr als zehn Jahren zusammen musiziert, zeigte beispielhaft, wie man mit ganz simplen Harmonien und sehr einfach gehaltenen Texten zu völlig alltäglichen Themen das Publikum begeistern kann. „Ranzenblitz“ rappte sich munter und mit viel Leidenschaft durch ihren Auftritt und „EFI tanzt“, die zwischen „Musiccaps“ und „Ranzenblitz“, aber vor „Dickes Blech“ ihre Tänze zum besten gaben, brachten das Publikum vor dem Finale ordentlich in Stimmung. Ich persönlich konnte durch diesen Teil des Abends vor allem eins lernen: Es muss nicht immer kompliziert sein, um gut zu sein, manchmal ist etwas ganz Einfaches sogar besser!

    Es war eine sehr gelungene Veranstaltung, die eine Begegnung Behinderter und nicht behinderter Menschen auf Augenhöhe ermöglicht. Ich selbst weiß jetzt, dass ich mich auf mich und mein Repertoire verlassen kann und jederzeit mit einer durchaus großen Auswahl an Liedern spontan auftrittsbereit bin und dass es auch mal bereichernd sein kann, nicht im Voraus zu planen.

  • Wie Technik mein Leben beeinflusst

    Ich gebe zu, bei meinem jungen Alter bin ich nie ohne Technik aufgewachsen. Und gewiss kennt jede und jeder Momente, in denen man die Technik verflucht oder man auf Berichte über Fernsehsucht, Stromausfälle oder den Datenschutz stößt – doch die Technik bringt gerade für mich als Blinde große Vorteile mit sich.

     

    Ich erinnere mich noch gut an meine Kurzschriftlehrerin. Kurzschrift ist eine stark verkürzte Form der Blindenschrift (in einem anderen Beitrag gehe ich darauf nochmal konkret ein). Jedenfalls war die Kurzschriftlehrerin selbst blind – ein großer Vorteil, denn so war die Schrift ein ganz normaler Bestandteil ihres Alltags. Die Klassenarbeiten und Tests schrieben wir immer an einer mechanischen Schreibmaschine. Die Aufgabenstellungen waren auf einem separaten Papier, welches ebenfalls auf der Schreibmaschine geschrieben wurde. Ich persönlich schrieb eigentlich sehr gerne damit, jedoch konnte man Tipp- oder Flüchtigkeitsfehler nur sehr schwer bis gar nicht korrigieren. Einige Tage nach dem Schreiben der Arbeit bekamen wir den Aufschrieb wieder zurück – mit Kommentaren und Punkten, die die Fehler kennzeichneten, zwischen den Wörtern. Da ich selbst einmal eine Kurzschriftschülerin hatte, weiß ich, was für ein enormer Zeit- und Kraftaufwand dahinter steckt: Man muss jedes einzelne Blatt in die Schreibmaschine einspannen und den Schreibkopf exakt an der Stelle, an der man schreiben möchte, positionieren, was eine enorme Feinfühligkeit, Genauigkeit und Konzentration voraussetzt. Die Vorstellung, dass solche Umstände noch vor wenigen Jahrzehnten vollkommen alltäglich waren, ist für mich nur schwer greifbar und fast erschreckend. Was für eine enorme Arbeitsleistung mussten insbesondere die Pädagogen und Pädagoginnen damals erbringen! Da stellt sich wirklich die Frage: War die schulische Bildung für Blinde damals eingeschränkter oder mussten die Lehrkräfte mehr investieren? Ganz davon abgesehen: Wer die Blindenschrift nicht fließend lesen und schreiben konnte, war in der Blindenschule wohl zu 100 Prozent fehl am Platz …

     

    Und heute? Heute sieht das alles ganz anders aus. Heute gibt es mit den Braillezeilen Geräte, die mittels Computersoftware den Inhalt des Computerbildschirms in Blindenschrift anzeigen können, und zusätzlich kann man sich den Text über eine Sprachausgabe vorlesen lassen. Nicht ohne Grund werden alle Lehrbücher für meine bevorstehende Ausbildung digitalisiert: Sie können von anderen Blinden, die ebenfalls diesen Beruf ergreifen, ohne Mehraufwand ebenfalls verwendet werden und wenn ich meine Hausaufgaben oder bearbeiteten Klassenarbeiten in der Schule den Lehrkräften per Mail schickte oder auf unser internes Schulnetzwerk kopierte, konnten sie sie ganz entspannt mit Laptoptastatur und Computermaus korrigieren, ohne dass sie je von der Blindenschrift gehört haben mussten. Zudem ist man am Computer viel schneller als an der Schreibmaschine – und so schnell ich die Unterlagen der Lehrer oder der Lehrerin zukommen ließ, so schnell hatte ich im Umkehrschluss die korrigierten Versionen mit der Arbeitsnote. Niemand nimmt mehr seine mechanische Schreibmaschine mit in den Urlaub, um Postkarten zu schreiben, sondern tippt E-Mails oder Whatsapp-Nachrichten ins iPhone, das standardmäßig und damit vollkommen selbstverständlich über eine Sprachausgabe verfügt, und hat in diesem im Vergleich zur Schreibmaschine lächerlichen Gewicht Telefon, Radio, Wecker, Kalender, Navigationssystem, Farb- und Texterkennung, Apps zum Online-Shopping und -banking und den Internetzugang gleich inklusive – und es gibt noch viel mehr Dinge, die mir die Technik ermöglicht: Lautsprecherdurchsagen am Bahnsteig und in öffentlichen Verkehrsmitteln helfen mir dabei, mich zurechtzufinden, Blindenampeln sorgen für sichere Überquerungen von Straßen und Schienen …

     

    Ich kann mir ein Leben ohne Technik nicht vorstellen, auch wenn der technische Fortschritt und die stetige Weiterentwicklung und Optimierung im Umkehrschluss auch dafür sorgen, dass viele Herdplatten oder Waschmaschinen aufgrund ihres Touchscreens und einer fehlenden Sprachausgabe blind nicht oder nur eingeschränkt bedienbar sind und manche Websiten und Apps zwar grafisch wunderschön aussehen, deren Nutzung für blinde Menschen jedoch mit großen Barrieren verbunden sein können. Trotzdem glaube ich, dass Technik für mich in manchen Bereichen deutlich wichtiger als für Sehende ist. Ohne Technik könnte ich mein Leben nicht so leben, wie ich es lebe, denn sie ist in vielen Bereichen des Alltags für mich als Blinde unerlässlich.

     

    Hinweis: Mit diesem Beitrag nehme ich an der Blogparade „Wie Technik mein Leben verändert“ vom Blog „Anders und doch gleich“ teil, an dem ich selbst mitwirke. Schau daher auch gerne auf unserer Blogseite www.andersunddochgleich.de vorbei!

  • „20 Stühle für den guten Zweck“ – eine ganz besondere Benefizveranstaltung

    „20 Stühle für den guten Zweck“ – eine ganz besondere Benefizveranstaltung

    Gemeinsam mit der Karlsruher Autorin Sabine Kampermann wirkte ich am 10. Mai bei einer Veranstaltung der Reihe „20 Stühle für den guten Zweck“ mit.

    In der Regel findet einmal im Monat eine „20 Stühle“-Veranstaltung statt. Mit den „20 Stühlen“ sind 20 bunte Stühle gemeint, die pro Veranstaltungsabend zehn Euro kosten, wobei das gesamte Geld einem guten Zweck zugute kommt und die auftretenden Künstler/innen auf Honorar verzichten.

    Wie bei jeder Veranstaltung begann auch unser Abend am 10.05.2019 im Keller der kleinen Stadtteilbuchhandlung des Karlsruher Stadtteils Rüppurr mit einem Sektempfang (es gab aber auch Saft) und einem sehr leckeren Kuchen. Die Atmosphäre war von Anfang an sehr familiär und herzlich und obwohl wir zunächst dachten, dass nur wenige Leute kommen würden, waren schlussendlich doch die meisten Stühle besetzt.

    Nach einer Begrüßung durch die Hauptverantwortliche Eva Klingler gehörte der Abend Sabine Kampermann und ihrem Roman „Die Seelenkäuferin“. Insgesamt drei Kapitel las sie vor, komplett oder teilweise, und erzählte dazwischenliegende Handlungen frei. Mehr Infos zu dem Buch gibt’s hier: https://www.schwarzer-drachen-verlag.de/die-seelenkaeuferin/

    Ich war immer zwischen den Lese-Abschnitten dran: Mit meiner Ukulele im Gepäck präsentierte ich insgesamt vier Lieder – zwei mit deutschem, eins mit französischem und eins mit englischem Text. Diese Vielseitigkeit wurde von den Zuhörer/innen sehr gelobt – und besonders positiv verwundert war ich darüber, dass eine französische Muttersprachlerin, die im Publikum saß, gar nicht glauben konnte, dass das französische Lied auch von mir stammt.

    Im Anschluss an die musikalisch untermalte Lesung stellte eine Vertreterin des Diakonischen Werkes noch die Arbeit des Kinderhospizdienstes, dem das Geld des Abends zugute kommen sollte, vor. Unter https://www.kinderhospizdienst-karlsruhe.de/wie-wir-helfen/ könnt ihr Euch über diese wichtige Arbeit informieren.

    Ganz nebenbei unterstützten wir durch die Wahl unseres Veranstaltungsortes eine kleine Stadtteilbuchhandlung, die ehrenamtlich betrieben wird und beinahe hätte schließen müssen, da bei der großen Konkurrenz an Buchhandlungsketten in der Innenstadt dem kleinen Lädchen immer mehr die Kundschaft verloren gegangen war. Durch Veranstaltungen wie diese im Keller des Geschäfts, der als kleines Begegnungszentrum genutzt wird, sollen mehr Menschen auf dieses lokale Angebot aufmerksam gemacht werden.

    Im Anschluss an den offiziellen Teil des Abends wurde noch zu gemütlichem Beisammensein eingeladen. In diesem Zusammenhang kam ich mit einigen Besucher/innen direkt ins Gespräch, was für mich sehr schön war, denn da ich niemanden der Zuhörer/innen zuvor kannte, war das positive Feedback bezüglich meiner Musik eine tolle Bestätigung dafür, dass ich mit meiner Außenwirkung und der Präsentation meiner Lieder auch unbekannte Menschen erreichen und begeistern kann.

    Es war ein angenehmer Abend: Vor so einem kleinen Publikum spielt man selten, aber es war eine interessante Erfahrung, die Kooperation mit Sabine Kampermann war vollkommen problemlos und unkompliziert und die Herzlichkeit, die Begegnung auf Augenhöhe und die Offenheit, mit der auch Fremde hier miteinander ins Gespräch kamen, haben mir gut gefallen – und vor allem konnte ich einmal mehr eine wichtige regionale Arbeit im Sozial- bzw. Gesundheitsbereich unterstützen.

    Kerstin und Frau Kampermann

     

  • Mein Auftritt beim New Bands Festival

    Mein Auftritt beim New Bands Festival

    Wie Ihr vermutlich wisst, hatte ich am Samstag, den 01.06.2019, meinen Auftritt beim „New Bands Festival“, einem Nachwuchswettbewerb für junge Musiker/innen und Bands aus Karlsruhe und Umgebung.

    Der Wettbewerb gliederte sich in drei Live-Vorrunden mit jeweils sechs Bands oder Solokünstler/innen. Der zweite Platz der Jury kam ins Halbfinale, der erste Platz kam direkt ins Finale. Zudem waren die Eintrittskarten gleichzeitig Stimmzettel, auf denen alle Zuschauer/innen je zwei Stimmen abgeben konnten. Der erste Platz des Publikums durfte ebenfalls im Halbfinale spielen.

    Bei der Veranstaltung am 01.06. handelte es sich um die dritte und damit letzte Vorrunde, die im Kulturzentrum Tempel in Karlsruhe stattfand. Jeder Act hatte eine Spielzeit von 30 Minuten und zwischen den Gigs gab es immer eine Umbaupause von 15 Minuten. Ich war als dritte von 21.00 Uhr bis 21.30 Uhr an der Reihe.

    Aufgeregt war ich keineswegs, als ich gegen 20.45 Uhr die Bühne betrat. Warum auch? Ich erwartete nicht, dass ich weiterkommen würde, um ehrlich zu sein war der Wettbewerb mir völlig egal. Ich freute mich einfach nur auf coole 30 Minuten musizieren.

    Es ist durchaus eine Herausforderung, sich als einzige Solokünstlerin gegen fünf Bands zu behaupten, denn diese sorgen allein durch die klangliche Fülle und einen kräftigen Beat für Stimmung im Publikum. Deshalb suchte ich – wie immer – schnell den Kontakt zu den Leuten jenseits der Bühne und forderte sie zum Mitklatschen und Mitsingen auf. Wie jeder Auftritt begann auch dieser Auftritt mit meinem typischen Anfangsritual. Dann folgte auf eine rockige Premiere mit deutschem Text ein ruhigerer Klassiker mit englischem Text und auch meine musikalischen Appelle „Traum nach Freiheit“ und „Peace for everyone“ kamen zu Gehör. Ich durfte sogar noch eine Zugabe spielen, bei der ich das Publikum nochmal richtig gut einbinden konnte.

    Bis zur Entscheidung dauerte es noch drei Konzerte anderer Bands plus 30 Minuten Auswertungszeit. Dann wurde es spannend …

    Als ich später im Auto saß, war ich überglücklich. Ich war zwar erfolgreich in der Vorrunde ausgeschieden, aber die Betonung liegt auf ERFOLGREICH: Es war ein sehr gelungener Auftritt, der mir viel Freude bereitet hat und mir in besonderer Weise verdeutlichte, wie sehr meine Musik zu mir gehört. Um es mit den Worten meiner spontanen Improvisation beim Soundcheck auszudrücken: „Vielleicht werde ich gleich ganz schräg singen oder die Begleitung will mir nicht gelingen, doch das ist mir alles egal, denn was zählt, ist die Freude an der Musik! Eine halbe Stunde werd‘ ich für Euch spielen und mein Bestes geben, aber das Wichtigste ist die Freude an der Musik!“

  • Musik beim Sonntagstreff

    Musik beim Sonntagstreff

    Am Sonntag, den 24.03.2019, hatte ich meinen nächsten Auftritt – doch diesmal mal wieder ganz unter dem Motto „Musik für andere“.

    Einige Tage zuvor erreichte mich die Frage, ob ich mir vorstellen könnte, beim Sonntagstreff ein bisschen Klavier zu spielen. Der Sonntagstreff richtet sich an Menschen in schwierigen Lebenslagen wie beispielsweise sozial schwache, einsame oder obdachlose Personen und findet jeden Sonntag in einem anderen Stadtteil statt. Diesmal war der große Saal des evangelischen Gemeindezentrums in Hagsfeld Veranstaltungsort.

    Als ich ankam, war das Küchenpersonal schon eifrig am schnippeln, kochen und braten. Ich spendete einen Kuchen für das nachmittägliche Kaffeetrinken und freute mich, dass auch andere Kuchenspenden vorbeibrachten. Da die Eingangstür noch verschlossen, der Saal also noch ganz leer war, machte ich mich mit einer sehenden Mitarbeiterin auf Erkundungstour: Alle Tische waren liebevoll eingedeckt mit Blumen und einer kleinen Tüte Gummibärchen an jedem Platz, und man zeigte mir auch, wo der Flügel stand.

    Und dann kamen die Menschen. Es waren die unterschiedlichsten Leute, von Familien mit Kleinkindern über junge Erwachsene bis hin zu alten Menschen war alles vertreten – und genauso verschieden waren auch ihre Schicksale. Das leckere Mittagessen (Fleischkäse mit Kartoffelsalat beziehungsweise Nudln mit Tomatensauce) war eine perfekte Gelegenheit, um miteinander ins Gespräch zu kommen, beispielsweise mit einer jungen Mutter mit ihren Kindern. Die Situation, das zur Verfügung stehende Geld genau einteilen zu müssen und das Bedauern, den Kindern nicht mehr bieten zu können, stimmte mich sehr nachdenklich. Auch merkte ich, dass wohnungslose Menschen sehr unterschiedlich mit ihrer Lage umgehen: Manche verzweifeln daran, weil sie keinen Ausweg sehen. Ich unterhielt mich aber auch lange mit einem Mann, der das Leben auf der Straße trotz keinem Einkommen versucht, bestmöglich zu genießen, ganz nach dem Motto: Ich kann aktuell eh nichts daran ändern – diese Lebensfreude war beeindruckend! Ich lernte viel über die möglichen Sozialleistungen, die beantragt werden können und über Angebote der Arbeitsagentur, aber auch über Nächte in der Kälte und wie manche Menschen aufgrund ihrer sozialen Stellung von anderen beleidigt oder nicht ernstgenommen werden.

    Nach dem Mittagessen kam dann mein Job: Ich wurde zum Flügel geführt und angekündigt. Was sollte ich spielen? Um ehrlich zu sein, wusste ich das selbst, als ich an den Tasten saß, noch nicht hundertprozentig. Ich spielte einfach meine Instrumentalstücke, die ich zu meinem Repertoire zählen kann, durch, wie sie mir gerade in den Sinn kamen. Der Auftritt war qualitativ nicht so hochwertig wie der Auftritt eine Woche zuvor, doch es ging schließlich auch nicht darum, die Leute mitzureißen, sondern den Menschen eine Freude zu machen – und das schaffte ich auf jeden Fall!

    Während einige bei einem kleinen Spaziergang das schöne Wetter genossen, kamen viele Leute auf mich zu, um mir Fragen zu meiner Blindheit zu stellen. Sie waren total interessiert und wollten beispielsweise wissen, wie ich mich außerhalb meiner vier Wände bewege, wie ich am Computer arbeite und wie ich mir neue Lieder aneigne.

    Der zweite Teil des Treffs wurde mit einer humorvollen Geschichte eingeleitet. Anschließend wurde Memory gespielt, wobei die dafür verwendeten Bildkarten alle an einer großen Wäscheleine aufgehängt waren. Jedoch kann ich zu dem Spiel nicht mehr sagen, da alles, was dann passierte, visuell war und größtenteils ohne oder nur mit wenigen Worten vonstatten ging. Danach wurde es dafür umso greifbarer für mich: Es gab Kaffee und Kuchen, was für einen entspannten Ausklang sorgte.

    Es war eine spannende Erfahrung, mit sozial schwachen oder wohnungslosen Menschen in Kontakt zu kommen. Häufig sieht man (oder man bekommt es gesagt, dass sie zu sehen sind) solche Menschen zwar mal am Straßenrand o. Ä., hat aber keinen Kontakt zu ihnen. Heute habe ich erfahren, was für Ursachen und Schicksale einer solchen Situation zugrunde liegen können und dass Vorurteile wie „Obdachlose trinken immer nur Alkohol und rauchen“ oder „Obdachlose sind aggressiv“ absolut nicht der Wahrheit entsprechen. Sicher gibt es auch solche Menschen, doch die Menschen, die ich heute kennengelernt habe, waren alle nicht viel anders als Du und ich, freundlich und sehr offen. Und: Es war ein tolles Gefühl, mit meiner Musik anderen Freude schenken zu können!

  • Blind, aber selbstbestimmt

    Von Freitag, dem 01.02.2019 bis Sonntag, dem 03.02.2019 nahm ich an einem Seminar zum Thema „Den Alltag selbstbestimmt bewältigen“ teil, welches im KVJS-Tagungszentrum in Güldstein (nahe Herrenberg) stattfand. Die Seminargruppe bestand aus zehn teils geburtsblinden, teils späterblindeten Erwachsenen zwischen 17 und 85 Jahren, die Anregungen und Inspirationen im Hinblick auf die Bewältigung des Alltags als Mensch mit Seheinschränkung und den sich daraus ergebenden verschiedenen Facetten bekommen wollten.

    Am Freitagnachmittag trafen sich alle, die mit dem Zug anreisten, am Bahnhof in Herrenberg, an dem wir von einem Mitarbeiter des Tagungszentrums abgeholt und zu unserer Unterkunft gefahren wurden. Die Zeit bis zum Abendessen nutzten wir zum Beziehen unserer Zimmer. Das ganze Haus ist mit Blindenleitstreifen ausgestattet und die Mitarbeiter/innen halfen uns beim Essenholen am Buffet sowie bei der Wegfindung innerhalb des Gebäudes, was den Aufenthalt auch für diejenigen, die keine sehende Begleitperson mitgebracht hatten, sehr barrierefrei machte. Um 19.30 Uhr trafen wir uns dann in unserem Seminarraum. Nach einer Vorstellungsrunde erläuterten die beiden ebenfalls blinden Seminarleiterinnen Ablauf sowie inhaltliche Schwerpunkte des bevorstehenden Wochenendes. So bekam man schon mal einen Vorgeschmack auf das vielseitige und praxisorientierte Programm, bevor man zum weiteren Kennenlernen bei einem Getränk mit den anderen Teilnehmer/innen ins Gespräch kommen konnte. Wir konnten uns gut aufeinander einstimmen – und so erwarteten wir die kommende Zeit mit Freude und Spannung.

    Nach einem reichhaltigen Frühstück stiegen wir am nächsten Tag richtig ein. Im Laufe der zwei Seminartage kamen wir auf allerlei spannende Dinge zu sprechen. Dabei bekamen wir bei jedem Thema durch unsere Seminarleiterinnen einen Überblick über die jeweiligen Möglichkeiten und tauschten uns dann über unsere eigenen Erfahrungen aus, um uns gegenseitig zu inspirieren. Daneben konnten wir in praktischen Übungen die Inhalte vertiefen. Beim Thema „Identifikation von Lebensmitteln“ erprobten wir beispielsweise, was man allein durchs Tasten erkennt und wo man tastbare Kennzeichnungen benötigt. Durch ein Sortiment mit rund 70 Lebensmitteln, bei denen von Senf und Ketchup über Duschgel und Shampoo, Nudeln, Brotaufstrich und -aufschnitt bis hin zu Müsli, Nüssen und Schokolade alles vertreten war, konnten wir ein Gefühl dafür bekommen, was man markieren muss und was man an anderen Kriterien wie beispielsweise an der Oberflächenstruktur, am Material oder am Inhalt (diesen kann man manchmal durch die Verpackung hindurch spüren oder man erzeugt durch schütteln ein Geräusch) erkennen kann. Außerdem haben wir Strategien kennengelernt, mit denen man sich Dinge kennzeichnen kann (Moosgummibuchstaben, Klebe-Punkte, die es in verschiedensten Größen und Formen gibt, Blindenschriftbeschriftung oder auch über elektrische Hilfen).
    Bevor man Lebensmittel identifizieren und gegebenenfalls markieren kann, muss man sie aber erstmal einkaufen und deshalb haben wir auch die Frage „Welche Möglichkeiten hat eine blinde Person beim beschaffen von Lebensmitteln?“ beantwortet. Die Antwort ist sehr vielseitig: Alleine gehen und alles abtasten, was jedoch sehr zeitaufwendig ist, die Unterstützung durch technische Hilfen, Bestellung per Telefon, bei denen man je nach Ort und Geschäft die Ware sogar direkt nach Hause geliefert bekommt, einkaufen mit Assistenz, sei es in Form von Freunden,
    Bekannten oder Familienmitgliedern oder auch Verkäufern oder anderen Kunden im Geschäft, und dann gibt es natürlich noch die Variante des Online–Einkaufens. Wir bekamen Erfahrungswerte an die Hand, wo es möglich ist, blind alleine einkaufen zu gehen und wo es eher schwierig
    wird. Bei einem Marktstand oder in einer Bäckerei beispielsweise wird man von den Menschen hinter der Theke bedient, weshalb das für eine blinde Person überschaubarer ist als das Zusammensuchen des Einkaufs in einem großen Supermarkt mit vielen Regalen. Auch lernten wir eine Alternative zum Einkaufswagen kennen. Gerade das ist sehr wichtig für uns, da ein normaler Einkaufswagen für Blinde nur sehr schwer händelbar ist, wenn man allein unterwegs ist – eine tolle Motivation, auch mal was Neues auszuprobieren!
    Ein weiteres wichtiges Thema war das Thema Kleidung: Wie schafft man es, dass die Socken, die zusammengehören, auch zusammenbleiben? Welche Möglichkeiten gibt es, um die Wäsche so zu sortieren, dass man für deren Verwaltung keine sehende Unterstützung benötigt? Und woher weiß ich überhaupt, was ich anziehe? Ein kleiner Tipp: Auch für die Erkennung von Farben eines Kleidungsstücks gibt es verschiedene Möglichkeiten: Manche Stoffe fühlen sich, je nach Farbe, unterschiedlich an und es gibt auch Farberkennungsgeräte und Apps, die hier Abhilfe schaffen – wobei bei der Nutzung der Apps ein guter Umgang mit der Handykamera vorausgesetzt wird. Mit einer entsprechenden App haben wir deshalb geübt, wie man das iPhone halten muss, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Diese Übung ist wichtig, denn so kann man in einer Hilfesituation alternativ auch über Videotelefonie eine sehende Person hinzuziehen. Und: Viele blinde Menschen, die einen eigenen Haushalt führen, kennen das leidige Thema des Briefkastenleerens und des Analysierens und Verwaltens des sich darin befindenden Papierkrams – und wie macht man das, wenn man die Briefe nicht lesen kann? Genau so, denn Texterkennungs-Apps lesen einem alles vor – vorausgesetzt, man beherrscht die Handykamera.
    Hat man dann die Unterlagen gelesen, muss man manche in den Akten abheften – und auch hierfür gibt es Systeme, wie man trotz rein visuellem Inhalt auch ohne zu sehen den Überblick behält.
    Nicht zuletzt spielen auch völlig banale Dinge eine Rolle: Wenn ich von einer sehenden Person Besuch habe und diese benutzt das Licht, woher weiß ich dann als Person ohne jeglichen Sehrest, ob, wenn die Person sich verabschiedet hat, das Licht noch an oder wieder aus ist? Zum Schluss besuchte uns eine Rehalehrerin, die das Fach „Lebenspraktische Fähigkeiten“, die Grundlage für eine selbstständige Lebensführung, unterrichtet. Sie klärte uns darüber auf, welche Inhalte zu diesem Unterricht gehören (was sehr spannend war, da es ziemlich viel ist) und wie man solches Training beantragen kann. Gerade das, aber auch alle anderen Inhalte zeigen, dass man für Eigenständigkeit einstehen sollte und ermutigen jede einzelne Person, sich selbst zu vertrauen und niemals aufzugeben, da es für Dinge, die blind schier unmöglich scheinen, in vielen Fällen eine Lösung gibt.

    Die Zeit außerhalb der Seminareinheiten nutzte ich, um die Seminarleiterinnen bei der Gassirunde mit ihren Blindenführhunden zu begleiten, einen Spaziergang durch den direkt am Tagungszentrum gelegenen Park zu machen oder diesen Artikel zu schreiben, und samstagabends trafen wir uns an der Bar, um uns über alles mögliche zu unterhalten und um ganz viel Spaß miteinander zu haben. Bei der Abschlussrunde waren wir uns einig, dass wir eine tolle Gruppe waren und großes Interesse an einem Folgeseminar besteht.

    Ich persönlich fand das Wochenende klasse, super organisiert, inhaltlich toll ausgestaltet, sehr abwechslungsreich und informativ in lockerer Atmosphäre. Ich konnte viel für meinen Alltag mitnehmen und würde mich freuen, wenn ein Folgeseminar zustande kommt. Grundsätzlich finde ich, Inklusion hin oder her, spezielle Angebote für Menschen mit Sehbehinderung gerade im Hinblick auf diese Thematik zwingend erforderlich, da der Austausch mit Leuten, die die gleichen Herausforderungen haben wie man selbst, sehr wichtig ist und blinde Menschen durch ihr Handicap in vielen Dingen einfach besondere Bedürfnisse haben. Deshalb an dieser Stelle nochmal vielen Dank an das gesamte Personal des Tagungszentrums, das stets aufmerksam war und den Aufenthalt durch seinen Einsatz und seine Großzügigkeit sehr angenehm gemacht hat, an die tolle Seminarleitung und die sehende Assistenz, die uns mit Rat und Tat zur Seite stand und an die anderen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer, die so offen und aufgeschlossen waren, dass wir trotz der großen Altersspanne und den verschiedenen Erfahrungen und Schicksalen eine Gemeinschaft, in der alle gleichberechtigt waren, waren!

  • Erste Hilfe geht auch blind

    Erste Hilfe geht auch blind

    Am Wochenende um den 17. und 18. November 2018 nahm ich an einem Erste-Hilfe-Kurs, der sich speziell an blinde und sehbehinderte Menschen richtete, in Marburg teil.

    Nachdem wir (elf Teilnehmende, die ebenfalls blinde Kursleiterin und weitere sehende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes) uns in den Räumlichkeiten des Marburger Deutschen Roten Kreuzes eingefunden und einander vorgestellt hatten, startete der Kurs mit dem Thema“Erste Hilfe im Auto“ – dem Inhalt, den alle Sehenden auf jeden Fall lernen, wenn sie ihren  Führerschein machen. Trotzdem schadet es auch als blinde Person nicht, zu wissen, dass sich in jedem Auto Warnweste, Warndreieck und gültiger Erste-Hilfe-Kasten befinden sollte. Wir haben das Warndreieck sogar zusammengebaut und aufgestellt – im Ernstfall sollten wir diese Tätigkeit jedoch den Sehenden überlassen. Trotzdem: Wie muss das Dreieck im Bezug zum Straßenverkehr aufgestellt werden und woran kann ich herausfinden, dass es richtig steht? Wie weit sollte das Warndreieck von der Unfallstelle entfernt platziert werden? Das Erklären und Informieren ist auch blind möglich.

    Noch etwas sollte im Auto (und auch im Haushalt) zu finden sein: Ein Erste-Hilfe-Kasten. Die meisten Sehenden machen vermutlich den Deckel auf und sehen durch die Aufschrift auf den Packungen sofort, was Sache ist. Da das blind jedoch natürlich nicht so einfach geht und viele noch nicht einmal wissen, was man in solch einem Kasten überhaupt finden kann, besprachen und betasteten wir alle Dinge ausführlich: Die Schere, den Schnellverband, das Tape, die Handschuhe, die Rettungsdecke, die Kompresse, das Dreieckstuch, das Kühlpäckchen, die sterile Binde mit Wundauflage, die nicht sterile Binde ohne Wundauflage – es gab viel zu entdecken.

    Nun ist das Anschauen und Wiedererkennen die eine Sache, das Anwenden aber die andere. Weiterführend wurden deshalb eine Platzwunde am Kopf,eine tiefe, stark blutende Wunde am Handgelenk und eine Schnittwunde am Finger nachgestellt. So lernten wir, wie man eine Wunde am Kopf verarztet, einen Druckverband anlegt und Schnellverbände (besser als Pflaster bekannt) richtig verwendet. Das Ganze geschah vorwiegend bei anderen und nicht bei sich selbst,denn im Ernstfall behandelt man ja auch oft andere. Gar nicht so einfach, mit Handschuhen das Ausmaß einer Wunde einzuschätzen, die Binde so um den Kopf zuwickeln, dass sie nicht wegrutscht und mit der sehr gewöhnungsbedürftigen Schere ein passendes Pflaster zurechtzuschneiden – ich muss ehrlich zugeben,dass ich handwerklich äußerst ungeschickt bin und, während die anderen Blinden häufig sofort kapiert hatten, was zu tun war und alleine zurechtkamen, einige Unterstützung benötigte. Durch viel Geduld beim Zeigen der Handgriffe seitens der Kursleitung wurde ich aber mit jedem Mal im Umgang mit den Utensilien selbstständiger.

    In einem sich weitgehend auf theoretische Inhalte beschränkenden Block behandelten wir Themen wie Nasenbluten, Verbrennungen,Unterkühlung, Sonnenstich, Hitzschlag oder Gelenkbeschwerden – alles Dinge, die im Alltag von Bedeutung sein könnten, denn schließlich kann man sich auch als blinde Person mal versehentlich beim Kochen die Finger verbrennen oder beim Sport stürzen. Auch wenn es hier, wie bereits erwähnt, sehr theoretisch vonstatten ging, bekamen wir dennoch zahlreiche praktische Tipps und Tricks an die Hand.

    Das letzte umfangreiche Feld stellten die lebenserhaltenden Funktionen Herz/Kreislauf, Atmung und Bewusstsein dar. Dabei behandelten wir diesbezügliche Beschwerden wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Hyperventilation, Krampfanfälle und Asthma zunächst theoretisch, bevor wir praktisch nochmal richtig aktiv wurden – denn gerade in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, ist eine schnelle und zielführende Reaktion zwingend erforderlich. So erfuhren wir, welche nicht visuellen Möglichkeiten es zur Überprüfung der Atmung gibt, wie man einen bewusstlosen Menschen aus einem Auto befreit und wie man mit Hilfe der Rettungsdecke, der stabilen Seitenlage und der Reanimation (Wiederbelebung) eine angemessene Versorgung gewährleistet. Auch die Regeln beim Telefonat mit dem Rettungsdienst waren selbstverständlich Thema. Nach einer kurzen Erklärung der jeweiligen Vorgehensweise wandten wir diese direkt gegenseitig an und wurden dabei von der Kursleitung angeleitet und unterstützt. Gerade bei blinden Personen ist diese individuelle Starthilfe wichtig, damit sichergestellt werden kann, dass alles korrekt verstanden und angewendet wird und man auch nochmal die Hand geführt bekommt, wenn ein Arbeitsschritt nicht vollkommen sicher sitzt.

    Am Ende bekamen alle Teilnehmenden eine Erste-Hilfe-Fibel als CD und eine  Teilnahmebescheinigung .Alle, die diesen Artikel lesen und selbst schon einmal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben, wissen, dass diese Bescheinigung nicht einfach nur daher geschrieben ist, sondern die Inhalte des Kurses für Blinde wirklich mit den Inhalten des Kurses für Sehende übereinstimmen.

    Erste Hilfe mit Sehbehinderung ist bei Sehenden und Blinden gleichermaßen umstritten. Manche halten es für sinnlos, zu helfen, weil man als Blinder viel langsamer als ein Sehender agiert. Andere finden einen solchen Kurs  wichtig, denn auch Blinde gehören schließlich zur Gesellschaft. Tatsächlich gibt es Grenzen, an denen eine blinde Person sehende Unterstützung hinzuziehen sollte, doch allein das theoretische Wissen befähigt bereits dazu, andere instruieren und die Gesamtsituation dadurch koordinieren zu können. Davon abgesehen handelt es sich beim Verbinden oder beim Anwenden von stabiler Seitenlage oder Reanimation nicht um Dinge, bei denen das Sehen unerlässlich ist, sondern viel mehr um Dinge, bei denen die Arbeit mit den Händen im Vordergrund steht. So braucht ein Blinder zwar vielleicht ein bisschen mehr Zeit, der Unterschied hält sich jedoch in Grenzen und die Erstversorgung ist qualitativ genauso verantwortungsbewusst und einwandfrei wie bei Sehenden. Ja, in manchen Situationen muss man etwas anders als Sehende vorgehen, beispielsweise dann, wenn man keinen Erste-Hilfe-Kasten zur Hand hat oder wenn die Umgebung fremd ist und man dem Rettungsdienst sagen muss, wo man sich befindet. Trotzdem lohnt sich die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs auf jeden Fall auch für blinde Menschen, denn jede Hilfe zählt und kann mitunter entscheidend zu einem guten Ausgang beitragen. Ich persönlich fühle mich nach diesem Kurs wohler, weil ich, egal, ob der Notfall im eigenen Wohnumfeld, bei der Arbeit, beim Einkaufen oder in der Straßenbahn passiert,weiß, was zu tun ist und das Gefühl, meinen Mitmenschen so, wie sie mir aufgrund meiner Blindheit manchmal helfen, umgekehrt auch helfen zu können, mich glücklich macht.        

  • Hinter den Kulissen des Europacup-Rennens im Paracycling in Prag und noch viel mehr …

    Hinter den Kulissen des Europacup-Rennens im Paracycling in Prag und noch viel mehr …

    Es war für mich eine große Freude, dass ich mit meinem Tandemguide Tobi zu einem Europacup-Rennen nach Prag fahren durfte, welches er gemeinsam mit seinem blinden Freund Sepp bestritt. Zuvor hatten die beiden bereits mehrere Rennen innerhalb Deutschlands sowie die Deutsche Paratriathlon-Meisterschaft bestritten und waren im vergangenen Jahr bereits in Prag gestartet. Was ich nicht ahnen konnte war, dass der Fokus zwar auf dem Radsport lag, es aber noch einiges mehr zu entdecken geben würde …

    Die Reise begann am Freitag, den 28. September 2018. Bereits am Vormittag machten wir uns auf den Weg. Damit meine beiden Mitfahrer nicht bis nach Karlsruhe fahren mussten, fuhr ich  ihnen mit dem Zug entgegen. Nachdem ich am Bahnhof in Walldorf zugestiegen war, verbrachten wir die nächsten sechs Stunden im Auto. Zwar war die Autobahn nicht ganz staufrei, jedoch leitete uns das Navigationssystem am Stau vorbei, sodass wir sogar früher als erwartet ankamen. Bevor wir erstmals zur Rennstrecke fuhren, besorgten wir uns den Schlüssel zu unserer Ferienwohnung, was ich gleich mit einer kleinen Erkundungstour verband. An der Rennstrecke holten Sepp und Tobi dann ihre Startunterlagen ab und luden das Tandem, welches auf einem Gepäckträger auf dem Dach des Autos transportiert wurde, ab. Ich freute mich sehr, als ich die beiden ganz praktisch unterstützen konnte, indem ich sie bei der Wettkampfbesprechung vertrat. Die Wettkampfbesprechung fand in einem großen Zelt statt und wurde ausschließlich auf Englisch abgehalten. Wie sich später herausstellte, hatte ich einige Dinge falsch verstanden und als ich eine Rückfrage stellte, kam es ebenfalls zu Missverständnissen, trotzdem war es eine Aufgabe, die mir viel Spaß machte und ganz nebenbei eine tolle Auffrischung meiner Englischkenntnisse darstellte. Themen der Wettkampfbesprechung waren die Startzeiten, die Position der Startnummer am Rad, die Bewertung der Rennergebnisse und Informationen zum medizinischen Dienst.

    Nachdem Sepp und Tobi ihre Testfahrt auf der Rennstrecke beendet und wir uns in der Ferienwohnung eingerichtet hatten, fuhren wir in die Innenstadt Prags, die mich besonders beeindruckte, auch wenn einige Dinge für mich als Blinde nicht ersichtlich waren. So findet man in Prag überall alte Gebäude und Statuen. Obwohl es schon sehr spät abends war, waren immer noch unzählige Ausflugsschiffe auf der Moldau unterwegs. Wir konnten beobachten, wie in Tschechien getanzt wird, und überall gab es Musik, mal ein Akkordeonspieler am Straßenrand, mal Jazzmusik aus einer Kneipe und kurz darauf Metal aus einem Restaurant. Die Innenstadt Prags ist riesig und sehr belebt. Auch was Nahrungsmittel anbelangt ist hier manches anders als in Deutschland. So sind die Äpfel, Nektarinen und Zwetschgen im Supermarkt viel größer und wir stießen auf sehr viele Süßigkeiten, die wir bis dato nicht kannten. Als wir zurück in der Wohnung waren und einige der unbekannten Süßigkeiten probierten, mussten wir feststellen, dass manche sehr gut, andere aber auch sehr seltsam schmeckten – anderes Land, andere Geschmäcker.

    Am nächsten Morgen machten wir uns ausgeschlafen auf den Weg zu einer Bäckerei, um uns etwas zum Frühstücken zu besorgen, bevor wir gegen 11.30 Uhr an der Rennstrecke ankamen. Heute stand das Straßenrennen auf dem Programm. 17 Runden von je 3,3 Kilometern galt es zu absolvieren, wobei Sepp und Tobi das einzige deutsche Tandem am Start bildeten und mit einem serbischen, einem slowakischen, einem niederländischen, einem israelischen, zwei italienischen und vier polnischen Teams gleich zehn andere Tandems die Konkurrenz darstellten. Bevor es aber zum Start ging, gab es noch einiges zu organisieren: Ist beim Rad alles in Ordnung? Wie viel Energie müssen wir wann zu uns nehmen, damit es möglichst effizient ist? Wie viel Watt muss wer treten? Auf wie viel bar müssen die Reifen aufgepumpt werden? Da wurde kalkuliert und optimiert, was das Zeug hält. Ich stand dabei, hörte zu und kam zu dem Entschluss, dass das Training ein Aspekt, aber nicht der einzige Aspekt, der darüber entscheidet, wie gut man bei einem Rennen abschneidet, ist – Ernährung, Körpergewicht, Gewicht und Qualität des Materials, aus dem das Rad besteht, eine mental stabile Verfassung, Motivation, ein effektiver Energie- und Krafthaushalt und nicht zuletzt eine perfekte Zusammenarbeit beider Fahrer sind ebenfalls ausschlaggebende Faktoren.

    Und dann ging es los: Man hatte mich mit der Kamera ausgestattet und zur Strecke geführt, damit ich dort meine Aufgabe als Kamerafrau ausführen konnte – ja, ihr habt richtig gelesen, ich sollte die beiden filmen. So platzierten sich Sepp und Tobi in der Startaufstellung – und ich verpasste natürlich prompt den Start! Auch danach gestaltete sich das Filmen als sehr schwierig: Ich hatte keine Ahnung, wann das deutsche Tandem an mir vorbeifuhr und die Moderation erfolgte zu 90 Prozent auf Tschechisch. Ich filmte also einfach mal drauf los, ohne zu wissen, wer oder was mir da vor die Linse kam. Erst als das Rennen beendet war, erfuhr ich, wie es gelaufen war: Sie hatten die beiden Italiener hinter sich lassen können, blieben aber gegen alle anderen chancenlos – Platz neun von elf war das Ergebnis. Schade, dass mein Film vermutlich nicht besser war …

    In den nächsten Stunden drehte sich nahezu jedes Gespräch darum, ob man schneller bzw. besser als im Vorjahr war, was gut lief, was schlecht lief, was langfristig, was beim Zeitfahren am Folgetag optimiert werden muss und vieles mehr. Dabei wurden sowohl die Gesamtzeiten als auch die einzelnen Rundenzeiten aller Fahrer genau studiert und mit den Zeiten des Vorjahres und Daten anderer Rennen verglichen. Währenddessen ruhten wir uns etwas aus  und fuhren wieder in die Stadt. Nachdem wir uns in einem Restaurant gestärkt hatten, kauften wir ein paar Dinge für den Sonntag ein. Bevor wir zurück zur Wohnung fuhren, probierten wir noch eine tschechische Spezialität, die wir am Vorabend schon entdeckt hatten: Trdlo. Dafür wird ein Stück Teig um eine Art Nudelholz gewickelt, welches während des Backvorgangs langsam, aber gleichmäßig gedreht wird, und anschließend mit Nutella, Schokolade, Eis, Apfelmus, Marmelade oder etwas anderem gefüllt. Bekommen kann man diese Trdlos, die ausgesprochen gut schmecken, aber einen in puncto Aussprache durchaus herausfordern, gefühlt alle paar Meter an Ständen am Straßenrand.

    Bevor es am nächsten Tag noch einmal zur Rennstrecke ging, mussten wir unser Gepäck wieder ins Auto einladen und den Wohnungsschlüssel abgeben. Die Zeit war wirklich schnell vergangen! An der Rennstrecke lief es dann ähnlich ab wie vor dem Straßenrennen, wobei Sepp und Tobi, im Gegensatz zu vielen anderen Fahrern, keine Teile ihres Rades austauschten. Dafür lernte ich heute die Rolle, eine praktische Hilfe zum Warmfahren, kennen. In die Rolle kann man das Tandem einspannen und sich dann unter Realbedingungen einfahren, nur mit dem Unterschied, dass das Rad mit der Rolle fest verbunden ist und man sich deshalb nur auf der Stelle bewegt. Auch musste ich heute nicht filmen: denn Sepp und Tobi hatten vorab eine Stelle an der Strecke, an der die Kamera entsprechend platziert wurde, gefunden.

    Und dann ging es erneut an den Start. Diesmal starteten nicht alle auf ein Startsignal, sondern es startete immer ein Rad pro Minute. Da der Start sich an der Platzierung des Straßenrennens orientierte und die Letzten zuerst starteten, waren Sepp und Tobi als drittes an der Reihe. Fünf Runden, also 16,5 Kilometer, mussten so schnell wie möglich zurückgelegt werden. Auch hier bekam ich, abgesehen vom Start, nur sehr wenig mit, und auch hier landeten die beiden auf Platz neun, und wieder wurde im Anschluss analysiert und diskutiert. Es wurden aber auch Gespräche mit anderen Tandemfahrern geführt, was durchaus interessant war, da man sich austauschen konnte und dadurch viel voneinander erfuhr. Danach luden wir das Tandem aufs Auto und machten uns nach einer letzten Stärkung an der Rennstrecke auf den Weg Richtung Deutschland, der vollkommen reibungslos verlief.

    Es gab durchaus Momente, in denen ich mich fragte, von was Sepp und Tobi da sprachen und was sie taten, jedoch war dies vorhersehbar und so kann ich im Großen und Ganzen auf ein sehr interessantes Wochenende zurückblicken. Vielen Dank an Sepp und Tobi, dass ich mitfahren durfte!Wieso steht hier ein Stuhl im Aufzug Warmfahren auf der Rolle Vorbereitungen vor dem Start Unsere Küche Unser Schlafzimmer Unser beladenes Auto Startaufstellung vor dem Straßenrennen Sepp und Tobi im Wiegetritt Sepp und Tobi beim Überholen der Italiener Sepp und Tobi an der Strecke Sepp und Tobi am Limit Kerstin und Tobi am Morgen vor dem Start Kerstin Sepp und Tobi an der Strecke Kerstin findet den Zimmerschlüssel Herausbeschleunigen auf Start-Ziel Gebäude in Prag 3 Die Startunterlagen Das Team während der Fahrt Abenddämmerung in der Altstadt

  • Schminken – eine rein visuelle Erfahrung?

    Schminken – eine rein visuelle Erfahrung?

    Das Wort „schminken“ wird – logischerweise – meist mit verschiedenen Farben bzw. einer visuellen Verschönerung des Gesichts in Verbindung gebracht. Wenn man nun einen Zusammenhang zwischen Schminken und Blindheit finden soll, liegt der Gedanke, dass Blinde ja nichts mit Farben zu tun haben und sie doch eh nicht sehen, wie sie aussehen und es ihnen deshalb ja egal sein müsste, sehr nahe. Doch das ist falsch, denn meiner Meinung nach müssten gerade solche visuellen Dinge bei Blinden einen noch höheren Stellenwert als bei Sehenden einnehmen. Ich finde es wichtig, dass auch Nichtsehende intensiv für die verschiedenen Farben sensibilisiert werden, genauso wie für die vollkommen selbstverständlichen Dinge Sehender, die mitunter einen entscheidenden Faktor in Bezug auf eine gute Außenwirkung darstellen – wozu beispielsweise gehört, dass sich viele sehende Frauen schminken. Durch eine gute Kenntnis meines „visuellen Ichs“ und meiner „visuellen Umwelt“ kann ich zwar trotzdem nicht sehen, aber ich weiß: Welche Farben passen zusammen? Handelt es sich bei der Bluse um ein kindliches oder um ein erwachsenes rosa? Oder auch: Was macht den Unterschied zwischen einem geschminkten und einem ungeschminkten Gesicht? Natürlich wäre es nicht so angemessen, plötzlich von Passanten angesprochen zu werden: „Das T-Shirt, was du da trägst, ist aber nicht modisch“ oder „igitt, Sie sollten sich aber mal dringendst einen Termin beim Kosmetiker machen“ – nein!!! Aber wir Blinde sind bei solch ausschließlich über den Sehsinn feststellbaren Dingen zwangsläufig auf andere wie z. B. Eltern, Freunde etc. angewiesen, die uns darauf hinweisen, denn durch das Nichts-sehen passen wir uns ja nicht, wie die Sehenden, automatisch unserer Umwelt an. Entsprechend erfreut war ich, als meine sehende Freundin Kathrin mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, im Rahmen ihrer Prüfung, die sie offiziell zur Visagistin (eine Frau, die nicht sich selbst, sondern jemand anderes schminkt) qualifizierte, als Schminkmodell zu agieren.

    So kam ich etwas aufgeregt, aber sehr interessiert am Sonntag, den 02.09.2018, gegen 14.30 Uhr in einem Frankfurter Hotel, in dem das Ganze stattfand, an. Ich war die einzige Blinde unter den Schminkmodellen, mit Abstand die Jüngste und garantiert auch am unerfahrendsten: Wie verhält man sich bei so einer Prüfung? Wie ticken die Frauen in diesem „Genre“? Wird es schlimm sein, dass ich so überhaupt keine Ahnung von dem Thema habe?

    Insgesamt wurde ich zweimal geschminkt, wobei die angehenden Visagistinnen jeweils 40 Minuten Zeit hatten – hört sich viel an, ist es aber nicht, denn die Auswahl an Schminkartikeln ist so unübersichtlich, dass ich vor den Prüflingen, die in diesem „Chaos“ perfekt zurechtfanden, großen Respekt habe. Auch stelle ich es mir nicht einfach vor, für jede Person auf Anhieb zu wissen, was ihr farblich steht und was nicht – wobei ich natürlich auch nicht weiß, ob es nicht sogar für alle Sehenden so leicht ist und Visagistinnen ihr „Farbprofil“ einfach nur mit ihrem zur Verfügung stehenden Schminkmaterial abgleichen. Trotzdem war mir natürlich schnell klar, dass das hier kein „Ich schmink‘ mich mal schnell“ war, sondern dass Schminken in größerem Stil durchaus auch eine Form von Kunst, die man erlernen muss, ist. Da wurde mit Pinseln, Tüchern und Händen getupft, gerieben, geklopft und gestrichen, zwischendrin überlegt „Passt jetzt dies oder jenes besser?“ und am Ende ein ultimativer Schönheitscheck gemacht. Nachdem die Zeit abgelaufen war, mussten alle Schminkmodelle nacheinander vortreten und wurden von der Prüferin begutachtet. Darauf basierend bewertete sie die Arbeit der 22 Kursteilnehmerinnen, die ebenfalls alle versammelt waren, aufmerksam zuhörten und – zwischenzeitigem Murmeln nach zu urteilen – ebenfalls den Blick auf die Schminkmodelle gerichtet hatten. Jede konnte diese farblichen Faszinationen, die das Gesicht offensichtlich sehr zu prägen und zu verschönern schienen, begutachten – außer ich. „Fühlt man das irgendwie, dass man anders aussieht?“, wurde ich gefragt. Nein, ich merkte keinen Unterschied, außer der Tatsache, dass an manchen Stellen im Gesicht etwas Nasses und Kaltes auf meiner Haut war. Ich konnte nur hören, wie die Prüferin Kathrin für die Arbeit lobte und wie sie mehrfach betonte, was für eine hübsche Frau ich doch sei, und alle ihr zustimmten – das war durchaus ein emotionaler Moment, und auf dieses akustische Feedback musste ich vertrauen.

    Später bei der zweiten Schminkrunde fiel die Aussage: „Schade, dass du die Fotos von dir nicht sehen kannst.“ Ich konnte noch nie sehen und kann mir deshalb auch nicht vorstellen, wie Sehende so etwas wahrnehmen, weshalb mir das auch nichts ausmacht, es nicht sehen zu können, aber natürlich versuche ich mir vorzustellen, wie mein Make-Up visuell wirkt. Das war auch der Grund für folgendes Gespräch, mit dem ich gerne abschließen möchte:

    „Welchen Unterschied hat die Schminke bei mir eigentlich visuell gemacht?“

    „Es ist, als würdest du ein Musikstück hören, bei dem aber das Schlagzeug fehlt, und dann kommt es dazu – und das Stück wirkt einfach viel ausdrucksstärker, viel vollkommener.“

    „Heißt das dann, dass man eigentlich gar nicht ungeschminkt herumlaufen kann?“

    „Doch, du kannst durchaus ungeschminkt herumlaufen, denn es gibt noch einen weiteren Faktor, den man nicht vergessen sollte: Die natürliche Schönheit. Jedoch sollten alle die Möglichkeit haben, so etwas in Erfahrung zu bringen und dann bewusst eine Entscheidung für sich selbst zu treffen – unabhängig des Sehvermögens.“

    Vielen Dank für diese tolle und spannende Erfahrung, bei der ich einen wertvollen Einblick in eine weitere Facette der „rein visuellen Welt“ bekommen konnte – und auch auf diesem Wege nochmal herzlichen Glückwunsch liebe Kathrin zur bestandenen Visagistenprüfung!

     

    Mein Auge in Nahaufnahme Kathrin bei der Arbeit  Seitenansicht PortraitbildKathrin und ich    Tobi und ich

  • Aufstieg auf den Säntis (2502m)

    Aufstieg auf den Säntis (2502m)

    Mein Motto „Immer mal was Neues“ ist fast schon publik und so war es auch am Donnerstag, den 16. August 2018, als ich mich diesmal ohne Tandem, aber dafür mit Wanderschuhen zu einem Aufstieg auf den 2502 Meter hohen Säntis in den Schweizer Alpen aufmachte.

    Zugegeben, bis auf die sogenannte Schwägalb (1200 Meter Höhe) konnte man mit dem Auto fahren und das haben wir ausgenutzt. Doch dort hörte der fahrbare Weg dann endgültig auf. Man konnte sich noch nicht einmal mehr vorstellen, dass sich an dieser schier unendlich hohen, grauen Felswand ein Weg verstecken sollte, obwohl klar war, dass es einen gab. Trotzdem war mir etwas mulmig zumute, als es losging. Würde ich die Tour konditionell schaffen? Bin ich belastbar, mutig, sicher und entspannt genug? Kann ich meinem Begleiter wirklich absolut vertrauen? Selbst, wenn man einen Triathlon gemacht hat, bereits im Steinbruch geklettert ist, sich im Rudern versuchte und immer wieder anspruchsvolle Mountainbike-Rennen mit dem Tandem mitfährt – man zweifelt doch jedes Mal wieder neu.

     

    Ein Glück ging es erstmal auf einen „Wiesenweg“, und auch als es allmählich felsiger wurde, war es wesentlich einfacher als gedacht – das ist blind gar nicht so schwer, wie es wirkt, man muss einfach nur auf die Anweisung der sehenden Begleitung hören und den Fuß auf den nächstgelegenen zum Drauftreten geeigneten Stein setzen. Wenn am Wegesrand (wenn man diese Gerölllandschaft „Weg“ nennen kann) ein Seil gespannt war, konnte ich komplett selbstständig daran entlanglaufen, genau wie mein Begleiter auch. Ich liebte diese Etappen, weil wir in dieser Zeit absolut gleichberechtigt waren und meine Blindheit für Außenstehende in keinster Weise zu Tage trat. Gleichzeitig war ich jedes Mal stolz darauf, den vorbeilaufenden Wanderern zeigen zu können: „Ich sehe nichts und bin trotzdem eine von euch!“

    Nichts desto trotz ließ aber natürlich die Kraft im Laufe der Zeit nach. In diesem Zusammenhang war und bin ich sehr dankbar für die drei Pausen, die wir immer nach etwa einer Stunde Fußmarsch einlegten. Durch Energieriegel und ein kohlenhydratreiches Vesper gelangte ich immer wieder zu neuer Kraft und Motivation. Bei einer Berghütte in bereits über 2000 Metern Höhe, bei der wir unsere letzte Pause machten, erzählte uns der Gastwirt, der während der Wandersaison auch dort wohnt, dass er für seinen Haushalt nur das Regenwasser zur Verfügung hat und einmal in der Woche zu Fuß ins Tal hinabsteigt, um einzukaufen – das muss man sich mal vorstellen: Da hat man kaum Luftlinie, nur ganz viel Höhe, und das Leben der Menschen hängt wirklich von der Natur ab – kein Regen, kein Wasser!

    Etwas nachdenklich setzte ich meinen Weg nach dieser Schilderung fort. Nach der dort erworbenen Cola fühlte ich mich wieder fit und leistungsstark und war mir nun so sicher wie nie, den Gipfel zu erreichen. Doch immer deutlicher zeichnete sich eine ganz andere Problematik ab: Die Zeit. Zwar habe ich wahrlich keine Gehbehinderung, aber schon allein das Suchen geeigneter Steine und das Ausführen der Anweisungen der sehenden Begleitung sorgen für ungeahnte Zeitabweichungen. Bestes Beispiel dafür: Der Weg von der Hütte zu einer Stütze der Bergbahn, an der man auch aus- und zusteigen kann. Der Wegweiser zeigt für diesen Weg 25 Minuten an, bei uns dauerte es knapp unter einer Stunde. Da wir im Bezug auf den Weg ins Tal von der Bergbahn abhängig waren und diese nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit fährt, war das Beenden der Wandertour an der Stütze unabdingbar. So forderten wir wohl oder übel die Bergbahn an, stiegen an der Stütze zu und ließen uns die letzten 250 Meter (die wandertechnisch die schwierigste Etappe der gesamten Tour gewesen wären) hochfahren. Im ersten Moment überwog die Enttäuschung, es nicht komplett geschafft zu haben, als ich oben ankam, doch als ich kurz darauf der Beschreibung der Aussicht lauschen durfte, war ich einfach nur noch glücklich. Ich war oben auf dem Gipfel, und wenn die Bergbahn später gefahren wäre, wäre ich zu Fuß oben angekommen, denn der Koordination, Kraft und Ausdauer für das restliche Stück des Weges hätte ich mir – sagen wir zu 95 Prozent – sicher sein können. Und ganz ehrlich: An einer Stütze anstatt an einem regulären Bahnhof der Bergbahn einzusteigen, erlebt man auch nicht alle Tage.

    Irgendwie war ich für einen Moment doch ein bisschen traurig, dass ich nicht sehen konnte, denn die Aussicht muss der Beschreibung nach unglaublich gewesen sein. Beim Wandern allerdings hat mich die Blindheit in keinster Weise behindert – im Gegenteil: Sie hat mich nur noch mehr darin bestärkt, fremden und vielleicht erstmal unmöglich erscheinenden Dingen offen zu begegnen und sich von seiner Einschränkung nicht einschränken zu lassen.

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