Kategorie: Leben mit Blindheit

  • Blind, aber selbstbestimmt

    Von Freitag, dem 01.02.2019 bis Sonntag, dem 03.02.2019 nahm ich an einem Seminar zum Thema „Den Alltag selbstbestimmt bewältigen“ teil, welches im KVJS-Tagungszentrum in Güldstein (nahe Herrenberg) stattfand. Die Seminargruppe bestand aus zehn teils geburtsblinden, teils späterblindeten Erwachsenen zwischen 17 und 85 Jahren, die Anregungen und Inspirationen im Hinblick auf die Bewältigung des Alltags als Mensch mit Seheinschränkung und den sich daraus ergebenden verschiedenen Facetten bekommen wollten.

    Am Freitagnachmittag trafen sich alle, die mit dem Zug anreisten, am Bahnhof in Herrenberg, an dem wir von einem Mitarbeiter des Tagungszentrums abgeholt und zu unserer Unterkunft gefahren wurden. Die Zeit bis zum Abendessen nutzten wir zum Beziehen unserer Zimmer. Das ganze Haus ist mit Blindenleitstreifen ausgestattet und die Mitarbeiter/innen halfen uns beim Essenholen am Buffet sowie bei der Wegfindung innerhalb des Gebäudes, was den Aufenthalt auch für diejenigen, die keine sehende Begleitperson mitgebracht hatten, sehr barrierefrei machte. Um 19.30 Uhr trafen wir uns dann in unserem Seminarraum. Nach einer Vorstellungsrunde erläuterten die beiden ebenfalls blinden Seminarleiterinnen Ablauf sowie inhaltliche Schwerpunkte des bevorstehenden Wochenendes. So bekam man schon mal einen Vorgeschmack auf das vielseitige und praxisorientierte Programm, bevor man zum weiteren Kennenlernen bei einem Getränk mit den anderen Teilnehmer/innen ins Gespräch kommen konnte. Wir konnten uns gut aufeinander einstimmen – und so erwarteten wir die kommende Zeit mit Freude und Spannung.

    Nach einem reichhaltigen Frühstück stiegen wir am nächsten Tag richtig ein. Im Laufe der zwei Seminartage kamen wir auf allerlei spannende Dinge zu sprechen. Dabei bekamen wir bei jedem Thema durch unsere Seminarleiterinnen einen Überblick über die jeweiligen Möglichkeiten und tauschten uns dann über unsere eigenen Erfahrungen aus, um uns gegenseitig zu inspirieren. Daneben konnten wir in praktischen Übungen die Inhalte vertiefen. Beim Thema „Identifikation von Lebensmitteln“ erprobten wir beispielsweise, was man allein durchs Tasten erkennt und wo man tastbare Kennzeichnungen benötigt. Durch ein Sortiment mit rund 70 Lebensmitteln, bei denen von Senf und Ketchup über Duschgel und Shampoo, Nudeln, Brotaufstrich und -aufschnitt bis hin zu Müsli, Nüssen und Schokolade alles vertreten war, konnten wir ein Gefühl dafür bekommen, was man markieren muss und was man an anderen Kriterien wie beispielsweise an der Oberflächenstruktur, am Material oder am Inhalt (diesen kann man manchmal durch die Verpackung hindurch spüren oder man erzeugt durch schütteln ein Geräusch) erkennen kann. Außerdem haben wir Strategien kennengelernt, mit denen man sich Dinge kennzeichnen kann (Moosgummibuchstaben, Klebe-Punkte, die es in verschiedensten Größen und Formen gibt, Blindenschriftbeschriftung oder auch über elektrische Hilfen).
    Bevor man Lebensmittel identifizieren und gegebenenfalls markieren kann, muss man sie aber erstmal einkaufen und deshalb haben wir auch die Frage „Welche Möglichkeiten hat eine blinde Person beim beschaffen von Lebensmitteln?“ beantwortet. Die Antwort ist sehr vielseitig: Alleine gehen und alles abtasten, was jedoch sehr zeitaufwendig ist, die Unterstützung durch technische Hilfen, Bestellung per Telefon, bei denen man je nach Ort und Geschäft die Ware sogar direkt nach Hause geliefert bekommt, einkaufen mit Assistenz, sei es in Form von Freunden,
    Bekannten oder Familienmitgliedern oder auch Verkäufern oder anderen Kunden im Geschäft, und dann gibt es natürlich noch die Variante des Online–Einkaufens. Wir bekamen Erfahrungswerte an die Hand, wo es möglich ist, blind alleine einkaufen zu gehen und wo es eher schwierig
    wird. Bei einem Marktstand oder in einer Bäckerei beispielsweise wird man von den Menschen hinter der Theke bedient, weshalb das für eine blinde Person überschaubarer ist als das Zusammensuchen des Einkaufs in einem großen Supermarkt mit vielen Regalen. Auch lernten wir eine Alternative zum Einkaufswagen kennen. Gerade das ist sehr wichtig für uns, da ein normaler Einkaufswagen für Blinde nur sehr schwer händelbar ist, wenn man allein unterwegs ist – eine tolle Motivation, auch mal was Neues auszuprobieren!
    Ein weiteres wichtiges Thema war das Thema Kleidung: Wie schafft man es, dass die Socken, die zusammengehören, auch zusammenbleiben? Welche Möglichkeiten gibt es, um die Wäsche so zu sortieren, dass man für deren Verwaltung keine sehende Unterstützung benötigt? Und woher weiß ich überhaupt, was ich anziehe? Ein kleiner Tipp: Auch für die Erkennung von Farben eines Kleidungsstücks gibt es verschiedene Möglichkeiten: Manche Stoffe fühlen sich, je nach Farbe, unterschiedlich an und es gibt auch Farberkennungsgeräte und Apps, die hier Abhilfe schaffen – wobei bei der Nutzung der Apps ein guter Umgang mit der Handykamera vorausgesetzt wird. Mit einer entsprechenden App haben wir deshalb geübt, wie man das iPhone halten muss, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Diese Übung ist wichtig, denn so kann man in einer Hilfesituation alternativ auch über Videotelefonie eine sehende Person hinzuziehen. Und: Viele blinde Menschen, die einen eigenen Haushalt führen, kennen das leidige Thema des Briefkastenleerens und des Analysierens und Verwaltens des sich darin befindenden Papierkrams – und wie macht man das, wenn man die Briefe nicht lesen kann? Genau so, denn Texterkennungs-Apps lesen einem alles vor – vorausgesetzt, man beherrscht die Handykamera.
    Hat man dann die Unterlagen gelesen, muss man manche in den Akten abheften – und auch hierfür gibt es Systeme, wie man trotz rein visuellem Inhalt auch ohne zu sehen den Überblick behält.
    Nicht zuletzt spielen auch völlig banale Dinge eine Rolle: Wenn ich von einer sehenden Person Besuch habe und diese benutzt das Licht, woher weiß ich dann als Person ohne jeglichen Sehrest, ob, wenn die Person sich verabschiedet hat, das Licht noch an oder wieder aus ist? Zum Schluss besuchte uns eine Rehalehrerin, die das Fach „Lebenspraktische Fähigkeiten“, die Grundlage für eine selbstständige Lebensführung, unterrichtet. Sie klärte uns darüber auf, welche Inhalte zu diesem Unterricht gehören (was sehr spannend war, da es ziemlich viel ist) und wie man solches Training beantragen kann. Gerade das, aber auch alle anderen Inhalte zeigen, dass man für Eigenständigkeit einstehen sollte und ermutigen jede einzelne Person, sich selbst zu vertrauen und niemals aufzugeben, da es für Dinge, die blind schier unmöglich scheinen, in vielen Fällen eine Lösung gibt.

    Die Zeit außerhalb der Seminareinheiten nutzte ich, um die Seminarleiterinnen bei der Gassirunde mit ihren Blindenführhunden zu begleiten, einen Spaziergang durch den direkt am Tagungszentrum gelegenen Park zu machen oder diesen Artikel zu schreiben, und samstagabends trafen wir uns an der Bar, um uns über alles mögliche zu unterhalten und um ganz viel Spaß miteinander zu haben. Bei der Abschlussrunde waren wir uns einig, dass wir eine tolle Gruppe waren und großes Interesse an einem Folgeseminar besteht.

    Ich persönlich fand das Wochenende klasse, super organisiert, inhaltlich toll ausgestaltet, sehr abwechslungsreich und informativ in lockerer Atmosphäre. Ich konnte viel für meinen Alltag mitnehmen und würde mich freuen, wenn ein Folgeseminar zustande kommt. Grundsätzlich finde ich, Inklusion hin oder her, spezielle Angebote für Menschen mit Sehbehinderung gerade im Hinblick auf diese Thematik zwingend erforderlich, da der Austausch mit Leuten, die die gleichen Herausforderungen haben wie man selbst, sehr wichtig ist und blinde Menschen durch ihr Handicap in vielen Dingen einfach besondere Bedürfnisse haben. Deshalb an dieser Stelle nochmal vielen Dank an das gesamte Personal des Tagungszentrums, das stets aufmerksam war und den Aufenthalt durch seinen Einsatz und seine Großzügigkeit sehr angenehm gemacht hat, an die tolle Seminarleitung und die sehende Assistenz, die uns mit Rat und Tat zur Seite stand und an die anderen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer, die so offen und aufgeschlossen waren, dass wir trotz der großen Altersspanne und den verschiedenen Erfahrungen und Schicksalen eine Gemeinschaft, in der alle gleichberechtigt waren, waren!

  • Erste Hilfe geht auch blind

    Erste Hilfe geht auch blind

    Am Wochenende um den 17. und 18. November 2018 nahm ich an einem Erste-Hilfe-Kurs, der sich speziell an blinde und sehbehinderte Menschen richtete, in Marburg teil.

    Nachdem wir (elf Teilnehmende, die ebenfalls blinde Kursleiterin und weitere sehende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes) uns in den Räumlichkeiten des Marburger Deutschen Roten Kreuzes eingefunden und einander vorgestellt hatten, startete der Kurs mit dem Thema“Erste Hilfe im Auto“ – dem Inhalt, den alle Sehenden auf jeden Fall lernen, wenn sie ihren  Führerschein machen. Trotzdem schadet es auch als blinde Person nicht, zu wissen, dass sich in jedem Auto Warnweste, Warndreieck und gültiger Erste-Hilfe-Kasten befinden sollte. Wir haben das Warndreieck sogar zusammengebaut und aufgestellt – im Ernstfall sollten wir diese Tätigkeit jedoch den Sehenden überlassen. Trotzdem: Wie muss das Dreieck im Bezug zum Straßenverkehr aufgestellt werden und woran kann ich herausfinden, dass es richtig steht? Wie weit sollte das Warndreieck von der Unfallstelle entfernt platziert werden? Das Erklären und Informieren ist auch blind möglich.

    Noch etwas sollte im Auto (und auch im Haushalt) zu finden sein: Ein Erste-Hilfe-Kasten. Die meisten Sehenden machen vermutlich den Deckel auf und sehen durch die Aufschrift auf den Packungen sofort, was Sache ist. Da das blind jedoch natürlich nicht so einfach geht und viele noch nicht einmal wissen, was man in solch einem Kasten überhaupt finden kann, besprachen und betasteten wir alle Dinge ausführlich: Die Schere, den Schnellverband, das Tape, die Handschuhe, die Rettungsdecke, die Kompresse, das Dreieckstuch, das Kühlpäckchen, die sterile Binde mit Wundauflage, die nicht sterile Binde ohne Wundauflage – es gab viel zu entdecken.

    Nun ist das Anschauen und Wiedererkennen die eine Sache, das Anwenden aber die andere. Weiterführend wurden deshalb eine Platzwunde am Kopf,eine tiefe, stark blutende Wunde am Handgelenk und eine Schnittwunde am Finger nachgestellt. So lernten wir, wie man eine Wunde am Kopf verarztet, einen Druckverband anlegt und Schnellverbände (besser als Pflaster bekannt) richtig verwendet. Das Ganze geschah vorwiegend bei anderen und nicht bei sich selbst,denn im Ernstfall behandelt man ja auch oft andere. Gar nicht so einfach, mit Handschuhen das Ausmaß einer Wunde einzuschätzen, die Binde so um den Kopf zuwickeln, dass sie nicht wegrutscht und mit der sehr gewöhnungsbedürftigen Schere ein passendes Pflaster zurechtzuschneiden – ich muss ehrlich zugeben,dass ich handwerklich äußerst ungeschickt bin und, während die anderen Blinden häufig sofort kapiert hatten, was zu tun war und alleine zurechtkamen, einige Unterstützung benötigte. Durch viel Geduld beim Zeigen der Handgriffe seitens der Kursleitung wurde ich aber mit jedem Mal im Umgang mit den Utensilien selbstständiger.

    In einem sich weitgehend auf theoretische Inhalte beschränkenden Block behandelten wir Themen wie Nasenbluten, Verbrennungen,Unterkühlung, Sonnenstich, Hitzschlag oder Gelenkbeschwerden – alles Dinge, die im Alltag von Bedeutung sein könnten, denn schließlich kann man sich auch als blinde Person mal versehentlich beim Kochen die Finger verbrennen oder beim Sport stürzen. Auch wenn es hier, wie bereits erwähnt, sehr theoretisch vonstatten ging, bekamen wir dennoch zahlreiche praktische Tipps und Tricks an die Hand.

    Das letzte umfangreiche Feld stellten die lebenserhaltenden Funktionen Herz/Kreislauf, Atmung und Bewusstsein dar. Dabei behandelten wir diesbezügliche Beschwerden wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Hyperventilation, Krampfanfälle und Asthma zunächst theoretisch, bevor wir praktisch nochmal richtig aktiv wurden – denn gerade in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, ist eine schnelle und zielführende Reaktion zwingend erforderlich. So erfuhren wir, welche nicht visuellen Möglichkeiten es zur Überprüfung der Atmung gibt, wie man einen bewusstlosen Menschen aus einem Auto befreit und wie man mit Hilfe der Rettungsdecke, der stabilen Seitenlage und der Reanimation (Wiederbelebung) eine angemessene Versorgung gewährleistet. Auch die Regeln beim Telefonat mit dem Rettungsdienst waren selbstverständlich Thema. Nach einer kurzen Erklärung der jeweiligen Vorgehensweise wandten wir diese direkt gegenseitig an und wurden dabei von der Kursleitung angeleitet und unterstützt. Gerade bei blinden Personen ist diese individuelle Starthilfe wichtig, damit sichergestellt werden kann, dass alles korrekt verstanden und angewendet wird und man auch nochmal die Hand geführt bekommt, wenn ein Arbeitsschritt nicht vollkommen sicher sitzt.

    Am Ende bekamen alle Teilnehmenden eine Erste-Hilfe-Fibel als CD und eine  Teilnahmebescheinigung .Alle, die diesen Artikel lesen und selbst schon einmal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben, wissen, dass diese Bescheinigung nicht einfach nur daher geschrieben ist, sondern die Inhalte des Kurses für Blinde wirklich mit den Inhalten des Kurses für Sehende übereinstimmen.

    Erste Hilfe mit Sehbehinderung ist bei Sehenden und Blinden gleichermaßen umstritten. Manche halten es für sinnlos, zu helfen, weil man als Blinder viel langsamer als ein Sehender agiert. Andere finden einen solchen Kurs  wichtig, denn auch Blinde gehören schließlich zur Gesellschaft. Tatsächlich gibt es Grenzen, an denen eine blinde Person sehende Unterstützung hinzuziehen sollte, doch allein das theoretische Wissen befähigt bereits dazu, andere instruieren und die Gesamtsituation dadurch koordinieren zu können. Davon abgesehen handelt es sich beim Verbinden oder beim Anwenden von stabiler Seitenlage oder Reanimation nicht um Dinge, bei denen das Sehen unerlässlich ist, sondern viel mehr um Dinge, bei denen die Arbeit mit den Händen im Vordergrund steht. So braucht ein Blinder zwar vielleicht ein bisschen mehr Zeit, der Unterschied hält sich jedoch in Grenzen und die Erstversorgung ist qualitativ genauso verantwortungsbewusst und einwandfrei wie bei Sehenden. Ja, in manchen Situationen muss man etwas anders als Sehende vorgehen, beispielsweise dann, wenn man keinen Erste-Hilfe-Kasten zur Hand hat oder wenn die Umgebung fremd ist und man dem Rettungsdienst sagen muss, wo man sich befindet. Trotzdem lohnt sich die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs auf jeden Fall auch für blinde Menschen, denn jede Hilfe zählt und kann mitunter entscheidend zu einem guten Ausgang beitragen. Ich persönlich fühle mich nach diesem Kurs wohler, weil ich, egal, ob der Notfall im eigenen Wohnumfeld, bei der Arbeit, beim Einkaufen oder in der Straßenbahn passiert,weiß, was zu tun ist und das Gefühl, meinen Mitmenschen so, wie sie mir aufgrund meiner Blindheit manchmal helfen, umgekehrt auch helfen zu können, mich glücklich macht.        

  • Schminken – eine rein visuelle Erfahrung?

    Schminken – eine rein visuelle Erfahrung?

    Das Wort „schminken“ wird – logischerweise – meist mit verschiedenen Farben bzw. einer visuellen Verschönerung des Gesichts in Verbindung gebracht. Wenn man nun einen Zusammenhang zwischen Schminken und Blindheit finden soll, liegt der Gedanke, dass Blinde ja nichts mit Farben zu tun haben und sie doch eh nicht sehen, wie sie aussehen und es ihnen deshalb ja egal sein müsste, sehr nahe. Doch das ist falsch, denn meiner Meinung nach müssten gerade solche visuellen Dinge bei Blinden einen noch höheren Stellenwert als bei Sehenden einnehmen. Ich finde es wichtig, dass auch Nichtsehende intensiv für die verschiedenen Farben sensibilisiert werden, genauso wie für die vollkommen selbstverständlichen Dinge Sehender, die mitunter einen entscheidenden Faktor in Bezug auf eine gute Außenwirkung darstellen – wozu beispielsweise gehört, dass sich viele sehende Frauen schminken. Durch eine gute Kenntnis meines „visuellen Ichs“ und meiner „visuellen Umwelt“ kann ich zwar trotzdem nicht sehen, aber ich weiß: Welche Farben passen zusammen? Handelt es sich bei der Bluse um ein kindliches oder um ein erwachsenes rosa? Oder auch: Was macht den Unterschied zwischen einem geschminkten und einem ungeschminkten Gesicht? Natürlich wäre es nicht so angemessen, plötzlich von Passanten angesprochen zu werden: „Das T-Shirt, was du da trägst, ist aber nicht modisch“ oder „igitt, Sie sollten sich aber mal dringendst einen Termin beim Kosmetiker machen“ – nein!!! Aber wir Blinde sind bei solch ausschließlich über den Sehsinn feststellbaren Dingen zwangsläufig auf andere wie z. B. Eltern, Freunde etc. angewiesen, die uns darauf hinweisen, denn durch das Nichts-sehen passen wir uns ja nicht, wie die Sehenden, automatisch unserer Umwelt an. Entsprechend erfreut war ich, als meine sehende Freundin Kathrin mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, im Rahmen ihrer Prüfung, die sie offiziell zur Visagistin (eine Frau, die nicht sich selbst, sondern jemand anderes schminkt) qualifizierte, als Schminkmodell zu agieren.

    So kam ich etwas aufgeregt, aber sehr interessiert am Sonntag, den 02.09.2018, gegen 14.30 Uhr in einem Frankfurter Hotel, in dem das Ganze stattfand, an. Ich war die einzige Blinde unter den Schminkmodellen, mit Abstand die Jüngste und garantiert auch am unerfahrendsten: Wie verhält man sich bei so einer Prüfung? Wie ticken die Frauen in diesem „Genre“? Wird es schlimm sein, dass ich so überhaupt keine Ahnung von dem Thema habe?

    Insgesamt wurde ich zweimal geschminkt, wobei die angehenden Visagistinnen jeweils 40 Minuten Zeit hatten – hört sich viel an, ist es aber nicht, denn die Auswahl an Schminkartikeln ist so unübersichtlich, dass ich vor den Prüflingen, die in diesem „Chaos“ perfekt zurechtfanden, großen Respekt habe. Auch stelle ich es mir nicht einfach vor, für jede Person auf Anhieb zu wissen, was ihr farblich steht und was nicht – wobei ich natürlich auch nicht weiß, ob es nicht sogar für alle Sehenden so leicht ist und Visagistinnen ihr „Farbprofil“ einfach nur mit ihrem zur Verfügung stehenden Schminkmaterial abgleichen. Trotzdem war mir natürlich schnell klar, dass das hier kein „Ich schmink‘ mich mal schnell“ war, sondern dass Schminken in größerem Stil durchaus auch eine Form von Kunst, die man erlernen muss, ist. Da wurde mit Pinseln, Tüchern und Händen getupft, gerieben, geklopft und gestrichen, zwischendrin überlegt „Passt jetzt dies oder jenes besser?“ und am Ende ein ultimativer Schönheitscheck gemacht. Nachdem die Zeit abgelaufen war, mussten alle Schminkmodelle nacheinander vortreten und wurden von der Prüferin begutachtet. Darauf basierend bewertete sie die Arbeit der 22 Kursteilnehmerinnen, die ebenfalls alle versammelt waren, aufmerksam zuhörten und – zwischenzeitigem Murmeln nach zu urteilen – ebenfalls den Blick auf die Schminkmodelle gerichtet hatten. Jede konnte diese farblichen Faszinationen, die das Gesicht offensichtlich sehr zu prägen und zu verschönern schienen, begutachten – außer ich. „Fühlt man das irgendwie, dass man anders aussieht?“, wurde ich gefragt. Nein, ich merkte keinen Unterschied, außer der Tatsache, dass an manchen Stellen im Gesicht etwas Nasses und Kaltes auf meiner Haut war. Ich konnte nur hören, wie die Prüferin Kathrin für die Arbeit lobte und wie sie mehrfach betonte, was für eine hübsche Frau ich doch sei, und alle ihr zustimmten – das war durchaus ein emotionaler Moment, und auf dieses akustische Feedback musste ich vertrauen.

    Später bei der zweiten Schminkrunde fiel die Aussage: „Schade, dass du die Fotos von dir nicht sehen kannst.“ Ich konnte noch nie sehen und kann mir deshalb auch nicht vorstellen, wie Sehende so etwas wahrnehmen, weshalb mir das auch nichts ausmacht, es nicht sehen zu können, aber natürlich versuche ich mir vorzustellen, wie mein Make-Up visuell wirkt. Das war auch der Grund für folgendes Gespräch, mit dem ich gerne abschließen möchte:

    „Welchen Unterschied hat die Schminke bei mir eigentlich visuell gemacht?“

    „Es ist, als würdest du ein Musikstück hören, bei dem aber das Schlagzeug fehlt, und dann kommt es dazu – und das Stück wirkt einfach viel ausdrucksstärker, viel vollkommener.“

    „Heißt das dann, dass man eigentlich gar nicht ungeschminkt herumlaufen kann?“

    „Doch, du kannst durchaus ungeschminkt herumlaufen, denn es gibt noch einen weiteren Faktor, den man nicht vergessen sollte: Die natürliche Schönheit. Jedoch sollten alle die Möglichkeit haben, so etwas in Erfahrung zu bringen und dann bewusst eine Entscheidung für sich selbst zu treffen – unabhängig des Sehvermögens.“

    Vielen Dank für diese tolle und spannende Erfahrung, bei der ich einen wertvollen Einblick in eine weitere Facette der „rein visuellen Welt“ bekommen konnte – und auch auf diesem Wege nochmal herzlichen Glückwunsch liebe Kathrin zur bestandenen Visagistenprüfung!

     

    Mein Auge in Nahaufnahme Kathrin bei der Arbeit  Seitenansicht PortraitbildKathrin und ich    Tobi und ich

  • Step by step – meine ersten Monate mit Schrittzähler

    Wie ihr vermutlich bereits gemerkt habt, bin ich gerade sehr selten online aktiv – tja, die Prüfungsphase ist immer noch nicht vorbei und das bedeutet natürlich vor allem lernen, lernen und noch mehr lernen. Jetzt gibt es da nur ein Problem: Dadurch, dass man so viel lernt, sitzt man nur noch am Schreibtisch rum und bewegt sich gar nicht mehr – und das ist natürlich nicht gut. Deshalb habe ich im Januar den Fitbit Flex 2, einen Schrittzähler, gekauft. Diesen Schrittzähler kann ich als Armband tragen oder auch in die Hosentasche stecken. Dabei sind mir keine Grenzen gesetzt, denn der Schrittzähler ist wasserdicht und kann somit auch beim Schwimmen getragen werden. Über Bluetooth kann ich ihn mit meinem Handy, auf dem ich zuvor die Fitbit-App installiert habe, koppeln. Alle Daten, die der Schrittzähler misst, werden so in die App übertragen. Diese Übertragung ist für mich essentiell, da ich die Anzeige des Schrittzählers ja nicht sehen und daher meine Daten nur über die App einsehen kann: Anzahl der Schritte, die ich an diesem Tag schon gemacht habe, verbrauchte Kalorien und gelaufene Kilometer. Ich kann auch meinen Schlaf aufzeichnen lassen und bekomme im Anschluss angezeigt, wie viel ich geschlafen habe. Damit man nicht einfach nur sieht, wie wenig/viel (in meinem Fall eher wenig…) man sich eigentlich bewegt, sondern sein Bewegungsverhalten verändert, habe ich mir Ziele gesetzt. Diese kann ich ebenfalls in der App einsehen. So möchte ich pro Tag mindestens 6000 Schritte machen und mindestens sieben Stunden pro Nacht schlafen – denn leider hatte ich in der Vergangenheit so viel zu tun (oder glaubte, so viel zu tun zu haben), dass ich häufig nur sehr wenig schlief, was sich wiederum auf die Folgetage auswirkte.
    Seitdem ich allerdings meinen Schrittzähler habe, ist Schluss mit diesem Verhalten. Ich habe sowohl mein Schlaf- als auch mein Schrittziel nahezu immer erreicht und an einigen Tagen sogar übertroffen. Zur weiteren Motivation kann man sich mit anderen Fitbit-Trägern messen, „wer an einem Tag, in einer Woche oder an einem Wochenende die meisten Schritte macht“ lautet hier die Devise. Zwar gewinne ich hier nicht jedes Mal, aber das verlange ich gar nicht, und mit meinen persönlichen Leistungen bin ich zufrieden. Lediglich in einer Sache muss ich noch besser werden: Jede Stunde mindestens 250 Schritte zu machen. Manchmal ist man einfach doch zu unmotiviert, aufzustehen und eine Runde zu laufen – doch ich arbeite dran, denn der Schrittzähler ist eine super Möglichkeit, um sich im stressigen Schulalltag trotzdem noch ausreichend zu bewegen!

  • Wie ich blind durch die Welt gehe

    Vor kurzem habe ich einen neuen Blindenstock bekommen. Aber wozu brauche ich den eigentlich? Und wie bewege ich mich eigentlich im Straßenverkehr? Ich möchte diesen Anlass nutzen, um Euch meine mobilitätstechnischen Tricks und Hilfen etwas näher zu bringen.

     

    Es ist Mittwochnachmittag und ich muss nach Heidelberg zu einem Termin – konkret bedeutet das: Erst zu Fuß, dann mit dem Bus, dann mit der Straßenbahn und dann nochmal ein kurzer Fußweg. Da liegt ein ganzes Stück Weg vor mir. Seid ihr bereit? Na, dann lasst uns losgehen!

     

    Ohne meinen Stock geht nichts!

    Das wichtigste Hilfsmittel ist für mich mein Blindenstock – ohne den geht gar nichts! Am einen Ende des Stocks ist eine Kugel angebracht. Wenn ich mit dem Blindenstock unterwegs bin, befindet sich diese Kugel auf dem Boden. Um meine Umgebung erfassen zu können, bewege ich den Blindenstock im Rhythmus zu meinen Schritten hin und her. Das bedeutet nicht, dass ich unorganisiert damit herumfuchtele. Die Kugel bleibt immer auf dem Boden und ich bewege den Blindenstock nur etwa in Schulterbreite. So merke ich genau an den Stellen, die unmittelbar vor mir sind, ob eine Treppe oder eine Bordsteinkante kommt oder ob da jemand seinen Sperrmüll rausgestellt hat. Damit sich die Kugel gleichmäßig abnutzt, dreht sie sich mit der Bewegung des Blindenstocks. Und wenn ich den Stock – wie beispielsweise nachher bei meinem Termin – nicht brauche, kann ich ihn einfach zusammenklappen und ihn in meine Tasche oder unter den Stuhl legen. Davon abgesehen, dass ich als blinde Person gesetzlich verpflichtet bin, mich als „blind“ zu kennzeichnen, würde ich mich ohne Blindenstock alleine unsicher und in vielen Situationen hilflos fühlen.

     

    Einmal durch den Ort

    Der Weg zur Bushaltestelle führt mich einmal durch den Ortskern. Hier komme ich an verschiedenen kleineren Geschäften sowie am Wochenmarkt vorbei. Ich muss Straßen überqueren, an diversen Einfahrten und Abzweigungen vorbei und abgestellten Fahrrädern, Tischen vor einem Café, Verkaufsschildern, Laternenpfosten und einem auf dem Weg geparkten Auto ausweichen. Eigentlich habe ich hier dahingehend inzwischen viel Routine, trotzdem fordert dieses Stück des Weges meine volle Konzentration.

     

    Unterwegs mit Bus und Bahn

    Endlich bin ich an der Bushaltestelle angelangt. Nun heißt es: Den richtigen Bus nehmen. Normalerweise müsste ich an dieser Stelle den Fahrer fragen, welcher Bus da vor mir steht, aber in diesem Fall habe ich Glück, denn ich kann alle Busse nehmen, die kommen. Dennoch stelle ich mich ganz vorne an die Haltestelle und stelle meinen Blindenstock vor mich. Das ist sehr wichtig, denn der Blindenstock ist nicht nur eine Hilfe für mich, sondern auch – wie bereits erwähnt – ein Erkennungszeichen für andere. Er macht darauf aufmerksam, dass ich nichts sehe und die Menschen um mich herum Rücksicht auf mich nehmen sollen.

     

    Die Fahrerin der Straßenbahn, in die ich nach meiner Busfahrt steigen muss, demonstriert das vorbildlich: Sie sagt von sich aus die Bahnlinie durchs Außenmikrofon durch und macht die Tür auf, damit ich sie finden kann. Das wünsche ich mir öfter. Gerade an Haltestellen, an denen mehrere Bahnlinien fahren, würde das so vieles erleichtern! Oft hören sich alle Bahnen gleich an, und deshalb muss ich immer nachfragen oder einfach einsteigen, wenn ich das Gefühl habe, dass das die richtige Bahn sein könnte. In Karlsruhe gibt es zwischen manchen Bahntypen noch akustische Unterschiede, da kenne ich dann die Reihenfolge der einfahrenden Bahnlinien und hoffe halt, dass keine Bahn ausfällt oder Verspätung hat und alles durcheinanderbringt. Das ist aber alles nicht optimal und so bleibt mir oft nur das Nachfragen. Dass die Fahrer die Bahnlinie durchsagen, ist leider sehr selten – schade!

     

    In der Bahn selbst kriege ich direkt einen Sitzplatz angeboten. Klar könnte ich auch stehen, aber die Bahn ist so voll, dass ohnehin überall Leute stehen, da bin ich ganz froh, wenn ich aus dem Trubel raus bin. In der Regel ist Bahnfahren recht entspannt. Wie sicher auch einige von Euch Sehenden schon gemerkt haben, gibt es in der Regel Haltestellenansagen, sodass ich die richtige Haltestelle nicht verpassen kann. Blöd wird es nur, wenn die Ansage mal ausfällt, was nicht so oft, aber doch ab und zu mal passiert. Klar kann man nachfragen, wo man sich gerade befindet, aber das mache ich ungern, weil ich genau weiß, dass ich das eigentlich selbst mitbekommen könnte. In meiner Heimatstadt Karlsruhe komme ich auf den Strecken, die ich immer wieder fahre, inzwischen auch ohne Ansage  gut klar, aber auf Strecken, die ich seltener fahre, wird es schon schwieriger: Mag ja sein, dass ich die Reihenfolge der Haltestelle kenne, aber dann will an einer Haltestelle mal niemand ein- oder aussteigen oder die Bahn fährt kurzfristig Umleitung – kurzum: Eine Straßenbahn ohne Ansage ist einfach blöd und immer mit dem Risiko verbunden, falsch zu fahren oder an der falschen Haltestelle auszusteigen.

     

    Straßenquerungen

    Wenn dann alles gut läuft und die Ansage vorhanden ist, komme ich irgendwann in Heidelberg an der richtigen Haltestelle an. Ich steige aus der Bahn aus – und muss erstmal die Straße überqueren. Straßenüberquerungen können ganz unterschiedlich aussehen. In diesem Fall gibt es eine Ampel mit Blindensignal. Wenn Ihr irgendwo mal ein regelmäßiges Klicken an einer Straße oder einer Haltestelle hört, kann es gut sein, dass es von einer Blindenampel stammt. Der Trick dabei ist: Neben einem ganz normalen Knopf für Sehende gibt es – etwas versteckt – einen speziellen Knopf für Blinde. Dieser Knopf ist als Pfeil dargestellt, der in die entsprechende Richtung zeigt, in die man laufen muss. Das ist beispielsweise dann hilfreich, wenn es – wie an diesem Ampelmast – zwei Ampelknöpfe gibt, wobei das eine Signal der Straße vor mir und das andere Signal den Straßenbahngleisen hinter mir gilt. In Kombination mit dem taktilen Aufmerksamkeitsfeld auf dem Boden kann ich mich genau ausrichten, sodass ich die Straße nicht schräg überquere. Wenn die Ampel grün wird, piepst diese. Es gibt auch Ampeln, an denen es keinen speziellen Pfeil für Blinde gibt, bei denen man aber bei grün eine Vibration spüren kann, wenn man die Hand auf die Ampel legt. Wenn man eine Straße überqueren muss, an der es keine Blindenampel gibt, gibt es dafür auch einen Trick: Man wartet, bis die Ampel rot wird und der Querverkehr vorbeifährt, und wenn man dann den Parallelverkehr wieder anfahren hört, läuft man mit über die Straße. Es gibt aber auch Kreuzungen, die so kompliziert und befahren sind, dass man sich entweder jemanden sucht, der einen mit rübernimmt, oder – wenn möglich – die Kreuzung meidet.

     

    WICHTIG für alle Sehenden:

    Leider trifft man immer wieder Leute, die einen einfach über die Straße ziehen, ohne etwas zu sagen und glauben, sie wüssten genau, wo die blinde Person hinlaufen möchte. Jedoch greift man – bei aller Gutmütigkeit – damit in das Konzept der blinden Person ein, was häufig Orientierungslosigkeit und Verwirrung zur Folge hat. Deshalb: Wenn Ihr helfen wollt, bitte immer erst fragen und auch akzeptieren, wenn die blinde Person dankend ablehnt! Der andere Fall, der immer wieder vorkommt, ist, dass ich aktiv nach Hilfe suche und entweder ausgerechnet jetzt niemand da ist oder aber zwar jemand in der Nähe ist, sich aber nicht akustisch bemerkbar macht. Bitte seid in solchen Situationen so offen und geht entsprechend auf uns zu!

     

    Sichere Ankunft

    Der Rest meines Weges ist nicht schwer und für mich problemlos zu finden. Den richtigen Eingang erkenne ich an einer gut hörbaren Tiefgarageneinfahrt. Dank meines Blindenstocks, Hilfen wie Blindenampeln und Blindenleitsystemen, aufmerksamen und hilfsbereiten Mitmenschen und einigen Tricks und Techniken konnte ich komplett alleine mit Bus und Bahn nach Heidelberg  bzw. zurück ins Internat fahren und meinen Termin wahrnehmen, ohne dass ich jemanden darum bitten musste, mich zu begleiten. Blind weitgehend unabhängig und selbstständig von sehenden zu sein, ist durchaus möglich – man muss nur wissen, wie!

     

  • Wie ich Musik mache

    Immer wieder komme ich mit sehenden Musikern ins Gespräch. Dabei kommt eigentlich immer irgendwann die Frage auf: Wie machst Du eigentlich Musik? Gibt es eine Notenschrift für Blinde? Die Antwort gibt es in diesem Beitrag.

     

    Von der Blindennotenschrift

    Es gibt eine Blindennotenschrift, die – wie die Blindenschrift selbst auch  von Louis Braille entwickelt wurde. Es werden regelmäßig Kurse angeboten, in denen blinde Menschen Blindennotenschrift lernen können. Ich selbst habe die Blindennotenschrift im Musikunterricht an der Blindenschule gelernt. Außerdem gibt es Lehrbücher in Blinden- und Schwarzschrift, in denen man langsam und mit vielen praxisnahen Übungen an die Zeichen (eine Kombination aus Buchstaben, Zahlen, Sonderzeichen und speziellen Musiksymbolen) herangeführt wird. Ich habe auch so ein Lehrbuch, mit dem ich – gerade, als wir das Thema im Musikunterricht behandelten – mit meinem sehenden Klavierlehrer sehr viel gearbeitet habe, was wunderbar funktioniert hat. Es gibt inzwischen in den Blindenbüchereien ein umfangreiches Sortiment an Musikalien in Blindennotenschrift, das man sich ausleihen oder kaufen kann. Das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen in Leipzig nimmt bei Bedarf auch individuelle Übertragungen von Schwarzschriftnoten in Braillenoten vor.

    Im Grunde genommen finde ich die Idee, eine spezielle Notenschrift für Blinde zu entwickeln, nicht allzu schlecht. Ich persönlich finde das Arbeiten damit allerdings ziemlich umständlich. Während ein Sehender die Noten vor sich liegen hat und diese parallel zum Spielen des Instruments lesen kann, muss ein Blinder zunächst die Noten lesen, analysieren, was das praktisch bedeutet, die Noten auswendig lernen – und erst dann kann er sie nachspielen. Ganz ehrlich: Bei klassischen, langen oder sehr komplizierten Stücken mag das vielleicht eine gute Methode sein, aber zumindest ich habe die allermeisten Lieder schneller nach Gehör gelernt.

     

    Die Vorteile eines absoluten Gehörs

    Sicherlich nicht ohne Grund haben sehr viele blinde Musikerinnen und Musiker (mich eingeschlossen) ein absolutes Gehör, können also jeden Ton exakt erkennen, die Tonhöhe genau bestimmen und die einzelnen Töne selbst dann noch heraushören, wenn mehrere Töne gleichzeitig gespielt werden. So fällt es Absoluthörern in der Regel sehr leicht, Lieder nachzuspielen. Ich kann zum Beispiel viele Lieder spielen, die ich nie gelernt, sondern einfach immer wieder gehört und mir unterbewusst eingeprägt habe. Ein ebenfalls blinder Klassenkamerad und ich haben unsere Musiklehrerin auch schon halb in den Wahnsinn getrieben, indem wir (natürlich mit möglichst originalgetreu klingendem Sound) am Keyboard die Schulglocke und diverse Handyklingeltöne nachgespielt haben.

    Ich versuche, so viel wie irgendwie möglich nach Gehör zu machen. Eine sehr wichtige Unterstützung ist hier mein Diktiergerät. Wenn ich ein neues Lied beim Klavierlehrer lerne, spielt er mir das Lied auf das Diktiergerät auf, sodass ich es daheim jederzeit nachhören kann. Manche Lieder lerne ich auch komplett alleine, indem ich sie mir Takt für Takt langsam erarbeite – das mache ich aber nur bei leichteren Stücken, denn die Akkorde eines Liedes herauszuhören ist etwas ganz anderes als das Identifizieren der einzelnen Töne. Auch wenn mir eine Melodie für ein mögliches neues Lied in den Sinn kommt, nehme ich sie – nach Möglichkeit sofort – mit meinem Diktiergerät auf. Wenn das nicht geht – bei der Arbeit beispielsweise -, schreibe ich mir die Melodie ganz schlicht in Blindennotenschrift auf und spiele sie dann daheim ein. Die Melodien speichere ich dann in einem bestimmten Ordner ab, sodass ich sie immer wieder nachhören oder erweitern kann.

    Und auch bei Jam Sessions hat ein absolutes Gehör nur Vorteile. Zum einen kann ich sehr schnell auf das, was andere spielen, reagieren, ohne dass man mir groß sagen muss, was ich wann machen soll. Bei einer Jam Session war es einmal so, dass einer anderen Person, die ein bestimmtes Lied singen wollte, die Originaltonart zu hoch war. Da ließ ich sie einfach mal anfangen, konnte aus ihrem ersten Ton auf die Tonart schließen und – ohne bewusst darüber nachzudenken – das Lied spontan entsprechend transponieren und begleiten. Wenn ich mich gut konzentriere, kann ich meine Ukulele auch ohne mein Keyboard oder E-Piano stimmen, weil ich die genaue Tonhöhe im Ohr habe, und so wurde ich auch schon damit beauftragt, vier Ukulelen aufeinander einzustimmen. Das absolute Gehör sorgt für hohe Flexibilität, Spontanität und Anpassungsfähigkeit.

     

    Probleme beim Musizieren

    Durch das Spielen nach Gehör bin ich gegenüber vielen Sehenden previligiert. Allerdings gibt es auch hier noch Barrieren. Wenn ich beispielsweise mit meinem Klavierlehrer ein bestimmtes Lied lernen will, suche ich mir auf YouTube eine für mich ansprechende Version raus, die gut klingt und die meiner Einschätzung nach für mich auch spielbar ist. Häufig gestaltet es sich aber als sehr schwierig, die Noten von exakt dieser Version zu finden, damit mein Klavierlehrer überprüfen kann, ob ich auch alles richtig herausgehört habe. Ein weiteres Problem ist, dass ich aktuell keine unkomplizierte und wirklich zufriedenstellende Möglichkeit kenne, um Schwarzschriftnoten in akustische Töne umzuwandeln. Mir als nicht gerade begeisterte Notenleserin bringt eine Übertragung der Schwarzschriftnoten in Braillenoten nicht unbedingt einen Mehrwert. Es gab mal eine App, die nach einem ähnlichen Prinzip funktionierte wie meine Texterkennungs-Apps, nur dass sie eben keinen Text, sondern eine Tonspur als Scanergebnis ausgab, diese wird aber nicht mehr unterstützt und sobald die Stücke ein bisschen komplizierter wurden, passte das erkannte Ergebnis nicht mehr. Und: Die Übertragung von Schwarzschriftnoten in Braillenoten ist ja möglich, aber umgekehrt kann man es nur über ei einziges Programm machen, das ziemlich teuer ist und bei dem sich – wenn man es nicht ständig brauch – der Kauf einfach nicht lohnt. Dadurch suche ich auch hier noch nach einer Lösung, mit der ich Braillenoten – beispielsweise die Akkorde von meinen eigenen Liedern – in Schwarzschriftnoten übertragen kann.

     

    Zusammengefasst:

    Es gibt eine Blindennotenschrift, die ich theoretisch auch kann. Da ich sie jedoch kaum anwende, habe ich inzwischen wahrscheinlich schon wieder die Hälfte verlernt. Ich setze mein Gehör ein, wo es nur geht, und trainiere es aktiv durch verschiedene Übungen zur Gehörbildung. Ja, selbst in der Musik gibt es manchmal noch Barrieren, gerade bei der Übertragung von Braillenoten in Schwarzschriftnoten oder von Schwarzschriftnoten in Audio-Files, trotzdem ist die Musik etwas, bei dem Blinde gegenüber Sehenden keinerlei Nachteile haben und bei dem beide Seiten wunderbar und absolut gleichberechtigt zusammenarbeiten und voneinander profitieren können.