Kategorie: Was mich bewegt

  • Die Stadt und ich – von guten und schlechten Tagen und drei persönlichen Wünschen, damit die guten Tage noch mehr überwiegen

    Mitte Januar beschlossen wir, meine Teamkolleg/innen und ich von unserem Gemeinschaftsblog „Anders und doch gleich“, mal wieder eine Blogparade zu starten. Unser Thema: „So sieht meine Traumstadt aus“. Es war für mich klar, dass ich mit gutem Beispiel vorangehen und einen entsprechenden Beitrag auf meiner Seite veröffentlichen wollte. Das Problem dabei: Einerseits verzettelte ich mich völlig in meinen Ansätzen, aber andererseits fand ich auch nichts so gut, dass ich mich darauf spezialisieren wollte. Schließlich löschte ich meine Sammlung und fing nochmal ganz neu an – sehr persönlich, aber auch für mich selbst sehr aufschlussreich, denn: Manchmal klappt das mit dem Gang durch die Innenstadt richtig gut, aber manchmal ist es – und zwar nicht nur aus blindenspezifischer Sicht betrachtet – für mich unglaublich anstrengend.

     

    Die schlechten Tage

    Es gibt Tage, da hasse ich die Stadt. Jede Ampel, die auf dem Weg steht und noch nicht mal einen Piep von sich gibt, nervt mich, denn dann muss ich Passanten fragen, ob ich über die Straße gehen kann. Wenn ich dann auf 200 Metern Wegstrecke fünf E-Rollern auf dem Gehweg ausweichen muss und der sechste mich fast über den Haufen fährt, weil ich ihn nicht höre und der Fahrer mich nicht sieht, würde ich meinen Blindenstock manchmal gerne zum Schlagstock umfunktionieren. Und allgemein steht überall Zeug rum, seien es Tische, Stühle, Werbeplakate oder – das macht die besten Beulen – Straßenlaternen und andere Pfosten, sodass ich auf die Wegweiser „Zum Stadtzentrum“ manchmal am liebsten „Zum Hindernisparcours“ schreiben würde.

    Um mich herum Menschen, wohin man hört, die hektisch von A nach B hetzen (dem entsprechend  unentspannt sind die von diesen Menschen ausgehenden Schwingungen dazu), Menschen, die am Wegesrand sitzen und mich mit Trauer und Sorge darüber nachdenken lassen, welche Geschichten, Erfahrungen, Gefühle sich hinter ihrer Fassade verbergen, wohl wissend, dass ich nichts für sie tun kann, was mich mitunter emotional ziemlich runterzieht. Dazu Autohupen, klapperndes Geschirr, piepende Alarmanlagen, rauschende Lüftungen … Duftende Brötchen … Stinkende Abgase … Eine Jacke auf einem Kleiderständer, die meine Schulter streift … Und kein Entkommen aus diesem Meer an Reizen, kein Platz und Raum, um aus der Unübersichtlichkeit und Hektik auszubrechen und mich wieder zu sortieren … Ach, wie sehr wünsche ich mir in solchen Momenten, dass mich jemand begleitet, damit ich mich nicht so sehr auf alles konzentrieren muss …

     

    Die guten Tage

    Es gibt aber auch Tage, da freue ich mich schon beim Aufstehen auf meinen Ausflug in die Stadt. Dann laufe ich seelenruhig durch die Einkaufsstraße und nehme jeden Geruch, jedes Geräusch, jede Schwingung neugierig in mich auf. Wenn ich etwas interessant finde, wie beispielsweise einen Straßenmusiker, bleibe ich stehen, um den Eindruck zu fossieren, und manchmal beginne ich ein Gespräch, um mehr über diese Menschen und ihre Musik zu erfahren. Ich höre spannende, berührende und auch sehr erschütternde Geschichten, doch an solchen Tagen bleibe ich bei den dramatischsten Schilderungen gelassen, denn ich bin stark genug, um mich davon abzugrenzen. Auch wenn ich heute an einer Kreuzung von vier gleich gut oder schlecht taktilen Leitlinien stehe und keine Ahnung habe, welche davon wohin führt, gehe ich offen auf die Leute um mich herum zu, denn ich stehe zu meiner Blindheit und jede Begegnung schenkt mir eine weitere Erfahrung – und mit dem Willen, Barrierefreiheit zu ermöglichen, ist ja schon ein großer Schritt getan.

    Vielleicht freue ich mich gerade auf die Herausforderung, eine blinde Freundin zu treffen und sie sicher durch die für sie fremde Umgebung zu führen. Vielleicht bin ich auch auf dem Weg in eines meiner Lieblingscafés, um Abstand zu meinen üblichen Aufenthaltsorten zu gewinnen, zu entspannen oder intensiv über etwas nachzudenken. Egal, wohin es geht: Ich bin voller Tatendrang, möchte alle Eindrücke mitnehmen, alles erfahren und erleben, was mir auf meinem Weg begegnet.

    An solchen Tagen fühle ich mich weder behindert noch zu sensibel, denn dann gibt mir die Stadt ein Umfeld, in dem ich die Kraft, die Freude, den Mut und das Vertrauen in mich selbst und meine Mitmenschen habe, um mich trotz und mit meiner Behinderung und meinem Charakter und den damit verbundenen Schwierigkeiten und Bedürfnissen wohlzufühlen. An solchen Tagen heißt es: Neugier statt Reizüberflutung und Gelassenheit statt Frustration – möge es mehr von diesen Tagen geben!

     

    Drei Wünsche für zukünftige Stadttouren

    1. Dass die Stadt noch mehr zu einem Ort wird, an dem ich mich als Blinde selbstständig und sicher bewegen kann. Es ist in den vergangenen Jahren dahingehend eine enorme Entwicklung erfolgt, gerade in puncto blindenfreundlichen Ampeln und Blindenleitsystemen, z. B. an Bahnhaltestellen oder teilweise auch an Zugängen zu wichtigen Gebäuden, z. B. manchen behördlichen Einrichtungen oder Gebäuden der Universität. Trotzdem erfordert ein unbegleiteter Gang durch die innerstädtischen Straßen häufig immer noch viel Konzentration, weil sehr viele Hindernisse im Weg stehen (manchmal sogar auf Leitstreifen) und ein Ausweichen, je nach dem, wie viele Leute unterwegs sind, nicht immer leicht ist.
    2. Dass die Menschen achtsamer sind. Wenn wir alle nicht in unserer schnelllebigen Welt von A nach B hetzen, sondern uns mehr Zeit nehmen und noch mehr aufeinander achten, bekommt die Stadt eine viel ruhigere und angenehmere Atmosphäre und vieles, was aus akustischer wie feinfühliger Perspektive für mich in der Hektik vieler Menschen um mich herum oft undurchsichtig und überfordernd erscheint, wäre für mich vielleicht besser verfolg- und verarbeitbar.
    3. Dass es Orte gibt, an die ich mich zurückziehen kann, wenn es zu viel wird. Ich denke da beispielsweise an den Schlosspark in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum (wobei auch dieser im Sommer ziemlich überlaufen ist). Ich stelle mir kleine Natur- bzw. Ruheoasen vor, idealerweise etwas abseits des Trubels wie z. B. in einem Hinterhof o. Ä., wo ich einfach kurz durchatmen kann, um mich dann wieder mit neuer Energie dem pulsierenden Leben um mich herum zu stellen.

     

    Hinweis: Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Blogparade „Meine Traumstadt der Zukunft“ des Blogs „Anders und doch gleich“, an dem ich ebenfalls mitwirke:

    https://www.andersunddochgleich.de/2021/01/14/blogparade-traumstadt/

  • Mein Text anlässlich des Aktionstages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai

    Ich steige aus der Straßenbahn, spüre eine leichte Kälte auf meiner Haut, eine frische, aber angenehme Brise, höre, wie sich die Tür mit leisem Piepsen schließt, die Bahn etwas ratternd davonfährt und es wieder still wird. Ich weiß, wo ich bin, kenne diesen Ort ganz genau. Nach elf Jahren Internat in der Blindenschule im Nachbarort ist diese Umgebung so etwas wie meine zweite Heimat. Ich gehe die Straße entlang, langsam, aber zielstrebig, Blindenstock voraus, vorbeibrummende Autos zu meiner rechten Seite, links eine Hauswand, die mir als Orientierung dient. Etwas später eine niedrige Mauer, dann eine sich akustisch deutlich vom Rest abhebende Einfahrt. Noch ein paar Meter muss ich weiter. Durch den Hof zum Hintereingang, dann bin ich da.

     

    Die Musik ist deutlich zu hören, ich brauche ihr nur zu folgen. Als die Kugel meines Stocks die Stufenkante berührt, bleibe ich stehen, taste vorsichtig nach dem Geländer und gehe dann schnell die steile Treppe hinunter. Es dauert nur wenige Sekunden, dann höre ich eine mir bekannte, sichtlich erfreute Stimme neben mir: „Hey Kerstin, schön, dass Du da bist!“ Kurz darauf sitze ich auf einem Stuhl und genieße die klangliche Vielfalt und die ausgelassene Stimmung. Ich komme mit ein paar Tischnachbarn ins Gespräch. Wir plaudern über Musik, über unsere Berufe, wie es nun mal so ist, wenn ein Gespräch begonnen wird. Irgendwann wird meine Blindheit Thema, man fragt mich, wie ich zum Veranstaltungsort gekommen bin, wie ich tanze und Kanu fahre – zwei meiner vielen weiteren Hobbys – und ich erwähne in einem Nebensatz, dass ich irgendwann alleine reisen und mich für andere einsetzen möchte und es mir nicht darum geht, perfekt musizieren zu können, sondern möglichst vielen Menschen Freude zu schenken. Es ist ein ganz normales Gespräch, gleichberechtigt und auf Augenhöhe, in dem meine Blindheit nicht mit Mitleid oder Bewunderung geahndet wird, sondern in dem sie als Eigenschaft, wie jeder seine Eigenschaften mit ihren Vor- und Nachteilen hat, wahrgenommen wird.

     

    „Na, hast Du Lust auf Musik?“, ruft jemand mir zu. Man führt mich durchs Getümmel zum Piano, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.  Nebenbei verfolge ich mit einem Ohr den röhrenden Sound der Gitarre, bevor ich einsetze. Meine Finger gleiten leichtfüßig über die Tasten, nicht wie die Finger einer Profipianistin, aber dafür voller Glück und Lebensfreude. „Geht’s Euch gut?“, rufe ich ins Mikrofon, das vor dem Piano steht, und einmal mehr bin ich in einer für mich jedes Mal aufs Neue unglaublichen Kommunikation mit dem Publikum, in der mich jene unsichtbaren Schwingungen die Atmosphäre spüren lassen und wir alle zusammen musizieren, obwohl ich nun alleine auf der Bühne agiere – und das ist das Stichwort: Ich bin nicht anders als andere, nicht besonderer. Ich bin ein Teil von ihnen. Rücksichtnahme und die Offenheit, jeden einzelnen Menschen mit seinen Schwächen und Stärken, seinen Wünschen, Bedürfnissen und Fähigkeiten, aber auch mit seinen Einschränkungen und Schwierigkeiten zu akzeptieren ist das, was uns als Gesellschaft ausmacht und ausmachen sollte, wenn wir einander begegnen – egal wer und wie wir sind, wo wir herkommen und wohin wir gehen.

     

    Etwas später bin ich von anderen Musikern umgeben, und wir improvisieren, was uns so in den Sinn kommt, von den Beatles bis Ed Sheeran, wobei ich Dank meines Gehörs absolut gleichberechtigt mitmachen kann. „Spielt Ihr das alles gerade eigentlich nach Noten?“, frage ich vor unserem letzten gemeinsamen Lied. „Nein, die spielen alles blind“, antwortet ein Mann mit tiefer, leicht schnarrender Stimme mit einem leichten bayrischen Akzent. Alle lachen. „Aber niemand spielt so blind wie ich“, merke ich an und lache mit.

     

    Hinweis: Dieser Text ist einer von vielen tollen Beiträgen, die im Rahmen der Aktion „Tag 05“ des Stadtjugendausschusses Karlsruhe anlässlich des Aktionstages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 05.05. entstanden sind. Aus allen Beiträgen ist ein Video entstanden, dass Ihr hier anschauen könnt:

  • Weltkindertag 2017 – Kindern eine Stimme geben

    Eigentlich wollte ich genau heute eine soziale Aktion durchführen, genau heute, aber irgendwie hatte ich es dann vergessen und plötzlich fiel mir das letzten Freitag im Unterricht ein und ich dachte: Oh, das ist jetzt aber etwas  spät …! Tja, und da blieb mir  nichts anderes, als auf eine Aktion zu verzichten – aber auf den Anlass für diese Aktion aufmerksam machen kann ich Dich, damit Du daran denkst und wenigstens sagen kannst, dass es Dir gesagt wurde.

    Ich weiß nicht, warum dieser Tag ausgerechnet an meinem Geburtstag stattfindet, aber dafür kann ich es mir gut merken – und irgendwie muss ich ja sagen: Er passt zu mir. Hast Du schon mal etwas vom Weltkindertag gehört? Er findet jedes Jahr am 20. September statt, an meinem Geburtstag. Jedes Jahr rufen das Deutsche Kinderhilfswerk und das Kinderhilfswerk UNICEF dazu auf, auf Kinderrechte aufmerksam zu machen und darüber aufzuklären, unter welchen Bedingungen die Kinder in den verschiedenen Ländern leben. Unter dem Motto „Kindern eine Stimme geben“ geht es dieses Jahr darum, mehr Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder zu schaffen. Kinder sind die Zukunft  unserer Welt, und deshalb brauchen auch sie Gelegenheiten, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen, in Schulen und Kindergärten/Kindertagesstätten, in Jugendzentren und Vereinen, in Städten und Gemeinden, aber auch auf Landes- und Bundesebene. Da Kinder nicht an der Bundestagswahl teilnehmen dürfen, appellieren UNICEF und das Deutsche Kinderhilfswerk an die Parteien, die Interessen von Kindern und Jugendlichen in ihre Wahlprogramme aufzunehmen und in der Umsetzung ihrer Politik zu berücksichtigen. Die Hauptveranstaltung des diesjährigen Weltkindertages fand bereits am 17. September in Berlin statt, aber auch in anderen Städten und Gemeinden gibt es zahlreiche Aktionen. So wird zum Beispiel in Freiberg in Sachsen für Kinderrechte gerappt. Manche Aktionen finden auch am Wochenende vor oder nach dem Weltkindertag statt.

    Falls Du Dich fragst, wie der Weltkindertag überhaupt entstanden ist, dann will ich Dir diese Frage gerne beantworten. Am 21. September 1954 traf sich die neunte Vollversammlung der Vereinten Nationen und empfahl ihren Mitgliedsstaaten, einen Weltkindertag zu veranstalten. Die Ziele waren, sich für Kinderrechte einzusetzen, die Freundschaft unter den Kindern und Jugendlichen zu fördern und die Regierungen zu verpflichten, einmal im Jahr das Kinderhilfswerk UNICEF zu unterstützen. Damit griffen die Vereinten Nationen einen Vorschlag der amerikanischen Organisation „international union for child welfare“, welche bereits 1952 die Einführung eines Weltkindertages forderte, auf. 1954 war der Weltkindertag geboren und schon damals beteiligten sich rund 40 Länder daran. Inzwischen wird er in mehr als 145 Staaten gefeiert. Die Umsetzung sowie das Datum stellte die Generalversammlung den UN-Mitgliedsstaaten frei – und Deutschland entschied sich für den 20. September. Dabei wird der Tag jedes Jahr unter einem anderen Motto gefeiert. Das diesjährige Motto „Kindern eine Stimme geben“ passt prima zur vier Tage später stattfindenden Bundestagswahl. Neueste Umfragen zeigen, dass sich über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen politisch einbringen möchten – und nicht zuletzt deshalb, weil die Kinder die Generation der Zukunft sind, ist es wichtig, dass auch sie gehört werden. Nicht ohne Grund zählt zu den Kinderrechten auch das Recht auf Beteiligung, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe oder Religion.

    Wie gesagt, ich bin leider zu spät dran  gewesen, sodass ich keine eigene Aktion mehr starten konnte. Aber hört die Meinungen und Einstellungen der Kinder an, akzeptiert sie und habt Verständnis dafür – und gebt die Botschaft weiter: Die Meinung der Kinder ist wichtig. Lasst uns ihnen deshalb gemeinsam eine Stimme geben!

    Mehr Infos rund um den Weltkindertag findet ihr hier:

    www.weltkindertag.de