Abenteuer Braille – Teil 2: Verschiedene Schriftformen

Die Schrift der Sehenden wird zwar von jedem Menschen etwas anders geschrieben, letzendlich handelt es sich aber um immer die gleichen Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen. In der Blindenschrift hingegen gibt es allein im Deutschen gleich vier bzw. eigentlich sogar fünf verschiedene Schriftformen, vier davon basieren auf Louis Brailles 6-Punkte-System und bauen aufeinander auf. Ich bin häufig daran gescheitert, Sehenden erfolgreich zu erklären, warum das so ist, trotzdem möchte ich in diesem Beitrag versuchen, zu erläutern, worin sich diese Schriftgrade unterscheiden und warum man sie überhaupt braucht.

 

Die Computerbraille

Man sieht meine Hände auf der Braillezeile, die gerade einen Text lesen.

Starten wir gleich mit dem von den ursprünglichen sechs Punkten abweichenden Sonderfall: Als „Computerbraille“ bezeichnet man die Schrift, die man in der Regel liest, wenn man am Computer arbeitet. Damit ist sie die Schriftform, die im digitalen Zeitalter wohl am häufigsten vorkommt. Bei der Computerbraille wird, wie bei der Schwarzschrift auch, jedes Zeichen und jeder Buchstabe ausgeschrieben. Gleichzeitig ist die Computerbraille das neueste Schriftsystem. Da sich nämlich im Laufe der Zeit herausstellte, dass 64 mögliche Zeichenkombinationen nicht immer ausreichend sind, hat man die Computerbraille kurzerhand um die Punkte 7 und 8 erweitert. So ist es auch leichter, Groß- und Kleinschreibung darzustellen: Ein Buchstabe ohne Punkt 7 ist kleingeschrieben, ein Buchstabe mit Punkt 7 ist großgeschrieben. Wenn man eine Braillezeile besitzt (mehr zur Braillezeile gibt’s im Teil „Verschiedene Schreibmöglichkeiten“), schreibt man in der Regel auch Computerbraille darauf.

 

Die Basisschrift

Die Basisschrift ist die ursprünglichste Form der Brailleschrift. Im Prinzip kann man sie als Computerbraille ohne Punkte 7 und 8 bezeichnen. Auch hier werden alle Zeichen geschrieben, nur werden alle Wörter kleingeschrieben, da es keinen Punkt 7 gibt. Die reine Basisschrift wird im Alltag so gut wie nie verwendet, aber letzendlich lernen sie alle, die Brailleschrift lernen, als erstes, um darauf basierend die Besonderheiten der anderen Braille-Varianten zu erarbeiten. Die nun folgenden drei Unterscheidungen basieren alle auf der Basisschrift und haben alle das Ziel, diese zu verkürzen.

 

Die Vollschrift

Man sieht wieder meine Hände, diesmal lese ich aber in einer Papierzeitschrift.

Die Vollschrift ist in puncto Kürzungsgrad die erste Abstufung. Im Vergleich zur Basisschrift werden hier manche Laute wie „sch“, „ei“ oder „au“ zu einem Zeichen zusammengezogen, wodurch der Text weniger Platz einnimmt. Da für diese Zeichen die Zeichen verwendet werden, mit denen man in der Computerbraille Zahlen darstellt, werden die Zahlen in Vollschrift als #a, #b, #c usw. dargestellt, also mit einem Nummernzeichen und dem entsprechenden Buchstaben des Alphabets. Auch Großbuchstaben werden mit einem speziellen Zeichen gekennzeichnet, wobei in professionell gedruckten Büchern häufig weiterhin einfach alles kleingeschrieben wird. Dass die Computerbraille-Zahlen in der Vollschrift etwas komplett anderes darstellen, ist für Sehende häufig nur schwer nachvollziehbar. Mir ist jedoch in der Regel schnell klar, welches Schriftsystem ich vorliegen habe.

 

Die Kurzschrift

Ihr seht das Buch "Das Wunder auf vier Pfoten" von Julia Rompp in Schwarz- und Brailleschrift. Die Brailleschriftausgabe, in Kurzschrift gedruckt, umfasst drei große Ordner mit insgesamt 494 Seiten. Die Schwarzschriftausgabe besteht aus einem Taschenbuch mit 316 Seiten.

Die Kurzschrift ist die Steigerung der Vollschrift. Hier werden die Kürzungszeichen der Vollschrift beibehalten, es kommen aber noch viel, viel mehr Kürzungen dazu (ich habe damals 256 Kürzungen gelernt, wie viele es seit der Kurzschriftreform 2017 sind, weiß ich nicht). So gibt es neben Zeichen für „au“, „ei“ und „sch“ nun auch Zeichen für „en“, „al“ oder auch Doppelkonsonanten wie „ll“ oder „mm“. Zudem gibt es ein- und zweiformige Kürzungen, das bedeutet, dass ein oder zwei Zeichen ein ganzes Wort darstellen (das Zeichen „-“ steht z. B. für das Wort „im“, die Buchstaben „jr“ stehen für Jahr o. Ä.). Es gibt auch Zeichen für bestimmte Vorsilben wie „auf“ oder „vor“ oder Nachsilben wie „nis“ oder „schaft“.

Die Kurzschrift ist vor allem im Hinblick auf Papierbücher in Brailleschrift wichtig. Da die Punkte viel mehr Platz als die Schwarzschrift in Anspruch nehmen (sie haben immer eine Größe von 6 bis 7 mm, denn man muss sie ja gut ertasten können) und auf deutlich dickeres Papier gedruckt werden müssen, bekommt man nicht selten ein riesiges Paket mit etlichen Ordnern, wenn man ein Buch ausleiht oder kauft. Ein Text in Vollschrift kann durch den Einsatz der Kurzschrift um weitere 30 bis 40 Prozent verkürzt werden – kein Wunder, dass etwa 80 Prozent aller Bücher in Kurzschrift gedruckt werden..

Während meiner fünften und sechsten Klasse musste ich die Kurzschrift noch verpflichtend lernen. Viele meiner Mitschüler haben das damals schon nicht ernstgenommen, weil es doch digitale Bücher für die Braillezeile gibt und die doch um Welten praktischer sind als die absolut reiseuntauglichen Papierbücher. Inzwischen ist das Erlernen der Kurzschrift zumindest an der Blindenschule, die ich besucht habe, nach meinem Kenntnisstand nicht mehr verpflichtend. Doch für alle Jugendlichen und Erwachsenen, die Papierbücher lesen möchten, ist die Kurzschrift ein Muss, da es ab einer bestimmten Altersstufe (meist ab etwa zwölf Jahren) keine Papierliteratur mehr in Vollschrift gibt. Aber achtung: Wer sagt, lesen fördert die Rechtschreibung, hat zumindest bei der Kurzschrift unrecht, denn bei so vielen Kürzungen bleibt von der eigentlichen Schreibweise des Wortes nicht mehr viel übrig.

 

Blindenstenografie

Früher dachte ich immer, die Kurzschrift sei unsere Steno, doch dem ist nicht so. Tatsächlich gibt es ein noch kürzeres (und noch wesentlich komplexeres) System, das sogar ganze Sätze und Redewendungen mit speziellen Kürzungen darstellt. Ich persönlich kenne niemanden, der diese Schrift beherrscht, aber sie soll es ermöglichen, gesprochenes Wort in Echtzeit mitzuschreiben – wahrscheinlich wie die Stenografie für Sehende auch. Um Steno zu schreiben, braucht man eine spezielle Technik, den sogenannten „Streifenschreiber“, wobei ich Euch nicht erklären kann, wie dieser aussieht oder wie er funktioniert, und manchmal wird für die Steno auch ein 7- bzw. 8-Punkt-System benutzt.

 

Direkter Schriftvergleich

Zuletzt noch ein Beispielsatz, damit Ihr den Unterschied zwischen Computerbraille, Vollschrift und Kurzschrift noch besser versteht.

Computerbraille: So schreibe ich Blindenschrift im Jahr 2021.

Vollschrift (mit Großschreibzeichen): $so 5r3be i4 $blinden5rift im $jahr #bjba.

Kurzschrift (ohne Großschreibzeichen): p 5be # bl*dc5t – jr #bjba.