Am Wochenende um den 17. und 18. November 2018 nahm ich an einem Erste-Hilfe-Kurs, der sich speziell an blinde und sehbehinderte Menschen richtete, in Marburg teil.
Nachdem wir (elf Teilnehmende, die ebenfalls blinde Kursleiterin und weitere sehende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes) uns in den Räumlichkeiten des Marburger Deutschen Roten Kreuzes eingefunden und einander vorgestellt hatten, startete der Kurs mit dem Thema“Erste Hilfe im Auto“ – dem Inhalt, den alle Sehenden auf jeden Fall lernen, wenn sie ihren Führerschein machen. Trotzdem schadet es auch als blinde Person nicht, zu wissen, dass sich in jedem Auto Warnweste, Warndreieck und gültiger Erste-Hilfe-Kasten befinden sollte. Wir haben das Warndreieck sogar zusammengebaut und aufgestellt – im Ernstfall sollten wir diese Tätigkeit jedoch den Sehenden überlassen. Trotzdem: Wie muss das Dreieck im Bezug zum Straßenverkehr aufgestellt werden und woran kann ich herausfinden, dass es richtig steht? Wie weit sollte das Warndreieck von der Unfallstelle entfernt platziert werden? Das Erklären und Informieren ist auch blind möglich.
Noch etwas sollte im Auto (und auch im Haushalt) zu finden sein: Ein Erste-Hilfe-Kasten. Die meisten Sehenden machen vermutlich den Deckel auf und sehen durch die Aufschrift auf den Packungen sofort, was Sache ist. Da das blind jedoch natürlich nicht so einfach geht und viele noch nicht einmal wissen, was man in solch einem Kasten überhaupt finden kann, besprachen und betasteten wir alle Dinge ausführlich: Die Schere, den Schnellverband, das Tape, die Handschuhe, die Rettungsdecke, die Kompresse, das Dreieckstuch, das Kühlpäckchen, die sterile Binde mit Wundauflage, die nicht sterile Binde ohne Wundauflage – es gab viel zu entdecken.
Nun ist das Anschauen und Wiedererkennen die eine Sache, das Anwenden aber die andere. Weiterführend wurden deshalb eine Platzwunde am Kopf,eine tiefe, stark blutende Wunde am Handgelenk und eine Schnittwunde am Finger nachgestellt. So lernten wir, wie man eine Wunde am Kopf verarztet, einen Druckverband anlegt und Schnellverbände (besser als Pflaster bekannt) richtig verwendet. Das Ganze geschah vorwiegend bei anderen und nicht bei sich selbst,denn im Ernstfall behandelt man ja auch oft andere. Gar nicht so einfach, mit Handschuhen das Ausmaß einer Wunde einzuschätzen, die Binde so um den Kopf zuwickeln, dass sie nicht wegrutscht und mit der sehr gewöhnungsbedürftigen Schere ein passendes Pflaster zurechtzuschneiden – ich muss ehrlich zugeben,dass ich handwerklich äußerst ungeschickt bin und, während die anderen Blinden häufig sofort kapiert hatten, was zu tun war und alleine zurechtkamen, einige Unterstützung benötigte. Durch viel Geduld beim Zeigen der Handgriffe seitens der Kursleitung wurde ich aber mit jedem Mal im Umgang mit den Utensilien selbstständiger.
In einem sich weitgehend auf theoretische Inhalte beschränkenden Block behandelten wir Themen wie Nasenbluten, Verbrennungen,Unterkühlung, Sonnenstich, Hitzschlag oder Gelenkbeschwerden – alles Dinge, die im Alltag von Bedeutung sein könnten, denn schließlich kann man sich auch als blinde Person mal versehentlich beim Kochen die Finger verbrennen oder beim Sport stürzen. Auch wenn es hier, wie bereits erwähnt, sehr theoretisch vonstatten ging, bekamen wir dennoch zahlreiche praktische Tipps und Tricks an die Hand.
Das letzte umfangreiche Feld stellten die lebenserhaltenden Funktionen Herz/Kreislauf, Atmung und Bewusstsein dar. Dabei behandelten wir diesbezügliche Beschwerden wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Hyperventilation, Krampfanfälle und Asthma zunächst theoretisch, bevor wir praktisch nochmal richtig aktiv wurden – denn gerade in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, ist eine schnelle und zielführende Reaktion zwingend erforderlich. So erfuhren wir, welche nicht visuellen Möglichkeiten es zur Überprüfung der Atmung gibt, wie man einen bewusstlosen Menschen aus einem Auto befreit und wie man mit Hilfe der Rettungsdecke, der stabilen Seitenlage und der Reanimation (Wiederbelebung) eine angemessene Versorgung gewährleistet. Auch die Regeln beim Telefonat mit dem Rettungsdienst waren selbstverständlich Thema. Nach einer kurzen Erklärung der jeweiligen Vorgehensweise wandten wir diese direkt gegenseitig an und wurden dabei von der Kursleitung angeleitet und unterstützt. Gerade bei blinden Personen ist diese individuelle Starthilfe wichtig, damit sichergestellt werden kann, dass alles korrekt verstanden und angewendet wird und man auch nochmal die Hand geführt bekommt, wenn ein Arbeitsschritt nicht vollkommen sicher sitzt.
Am Ende bekamen alle Teilnehmenden eine Erste-Hilfe-Fibel als CD und eine Teilnahmebescheinigung .Alle, die diesen Artikel lesen und selbst schon einmal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben, wissen, dass diese Bescheinigung nicht einfach nur daher geschrieben ist, sondern die Inhalte des Kurses für Blinde wirklich mit den Inhalten des Kurses für Sehende übereinstimmen.
Erste Hilfe mit Sehbehinderung ist bei Sehenden und Blinden gleichermaßen umstritten. Manche halten es für sinnlos, zu helfen, weil man als Blinder viel langsamer als ein Sehender agiert. Andere finden einen solchen Kurs wichtig, denn auch Blinde gehören schließlich zur Gesellschaft. Tatsächlich gibt es Grenzen, an denen eine blinde Person sehende Unterstützung hinzuziehen sollte, doch allein das theoretische Wissen befähigt bereits dazu, andere instruieren und die Gesamtsituation dadurch koordinieren zu können. Davon abgesehen handelt es sich beim Verbinden oder beim Anwenden von stabiler Seitenlage oder Reanimation nicht um Dinge, bei denen das Sehen unerlässlich ist, sondern viel mehr um Dinge, bei denen die Arbeit mit den Händen im Vordergrund steht. So braucht ein Blinder zwar vielleicht ein bisschen mehr Zeit, der Unterschied hält sich jedoch in Grenzen und die Erstversorgung ist qualitativ genauso verantwortungsbewusst und einwandfrei wie bei Sehenden. Ja, in manchen Situationen muss man etwas anders als Sehende vorgehen, beispielsweise dann, wenn man keinen Erste-Hilfe-Kasten zur Hand hat oder wenn die Umgebung fremd ist und man dem Rettungsdienst sagen muss, wo man sich befindet. Trotzdem lohnt sich die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs auf jeden Fall auch für blinde Menschen, denn jede Hilfe zählt und kann mitunter entscheidend zu einem guten Ausgang beitragen. Ich persönlich fühle mich nach diesem Kurs wohler, weil ich, egal, ob der Notfall im eigenen Wohnumfeld, bei der Arbeit, beim Einkaufen oder in der Straßenbahn passiert,weiß, was zu tun ist und das Gefühl, meinen Mitmenschen so, wie sie mir aufgrund meiner Blindheit manchmal helfen, umgekehrt auch helfen zu können, mich glücklich macht.