Ich steige aus der Straßenbahn, spüre eine leichte Kälte auf meiner Haut, eine frische, aber angenehme Brise, höre, wie sich die Tür mit leisem Piepsen schließt, die Bahn etwas ratternd davonfährt und es wieder still wird. Ich weiß, wo ich bin, kenne diesen Ort ganz genau. Nach elf Jahren Internat in der Blindenschule im Nachbarort ist diese Umgebung so etwas wie meine zweite Heimat. Ich gehe die Straße entlang, langsam, aber zielstrebig, Blindenstock voraus, vorbeibrummende Autos zu meiner rechten Seite, links eine Hauswand, die mir als Orientierung dient. Etwas später eine niedrige Mauer, dann eine sich akustisch deutlich vom Rest abhebende Einfahrt. Noch ein paar Meter muss ich weiter. Durch den Hof zum Hintereingang, dann bin ich da.
Die Musik ist deutlich zu hören, ich brauche ihr nur zu folgen. Als die Kugel meines Stocks die Stufenkante berührt, bleibe ich stehen, taste vorsichtig nach dem Geländer und gehe dann schnell die steile Treppe hinunter. Es dauert nur wenige Sekunden, dann höre ich eine mir bekannte, sichtlich erfreute Stimme neben mir: „Hey Kerstin, schön, dass Du da bist!“ Kurz darauf sitze ich auf einem Stuhl und genieße die klangliche Vielfalt und die ausgelassene Stimmung. Ich komme mit ein paar Tischnachbarn ins Gespräch. Wir plaudern über Musik, über unsere Berufe, wie es nun mal so ist, wenn ein Gespräch begonnen wird. Irgendwann wird meine Blindheit Thema, man fragt mich, wie ich zum Veranstaltungsort gekommen bin, wie ich tanze und Kanu fahre – zwei meiner vielen weiteren Hobbys – und ich erwähne in einem Nebensatz, dass ich irgendwann alleine reisen und mich für andere einsetzen möchte und es mir nicht darum geht, perfekt musizieren zu können, sondern möglichst vielen Menschen Freude zu schenken. Es ist ein ganz normales Gespräch, gleichberechtigt und auf Augenhöhe, in dem meine Blindheit nicht mit Mitleid oder Bewunderung geahndet wird, sondern in dem sie als Eigenschaft, wie jeder seine Eigenschaften mit ihren Vor- und Nachteilen hat, wahrgenommen wird.
„Na, hast Du Lust auf Musik?“, ruft jemand mir zu. Man führt mich durchs Getümmel zum Piano, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Nebenbei verfolge ich mit einem Ohr den röhrenden Sound der Gitarre, bevor ich einsetze. Meine Finger gleiten leichtfüßig über die Tasten, nicht wie die Finger einer Profipianistin, aber dafür voller Glück und Lebensfreude. „Geht’s Euch gut?“, rufe ich ins Mikrofon, das vor dem Piano steht, und einmal mehr bin ich in einer für mich jedes Mal aufs Neue unglaublichen Kommunikation mit dem Publikum, in der mich jene unsichtbaren Schwingungen die Atmosphäre spüren lassen und wir alle zusammen musizieren, obwohl ich nun alleine auf der Bühne agiere – und das ist das Stichwort: Ich bin nicht anders als andere, nicht besonderer. Ich bin ein Teil von ihnen. Rücksichtnahme und die Offenheit, jeden einzelnen Menschen mit seinen Schwächen und Stärken, seinen Wünschen, Bedürfnissen und Fähigkeiten, aber auch mit seinen Einschränkungen und Schwierigkeiten zu akzeptieren ist das, was uns als Gesellschaft ausmacht und ausmachen sollte, wenn wir einander begegnen – egal wer und wie wir sind, wo wir herkommen und wohin wir gehen.
Etwas später bin ich von anderen Musikern umgeben, und wir improvisieren, was uns so in den Sinn kommt, von den Beatles bis Ed Sheeran, wobei ich Dank meines Gehörs absolut gleichberechtigt mitmachen kann. „Spielt Ihr das alles gerade eigentlich nach Noten?“, frage ich vor unserem letzten gemeinsamen Lied. „Nein, die spielen alles blind“, antwortet ein Mann mit tiefer, leicht schnarrender Stimme mit einem leichten bayrischen Akzent. Alle lachen. „Aber niemand spielt so blind wie ich“, merke ich an und lache mit.
Hinweis: Dieser Text ist einer von vielen tollen Beiträgen, die im Rahmen der Aktion „Tag 05“ des Stadtjugendausschusses Karlsruhe anlässlich des Aktionstages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 05.05. entstanden sind. Aus allen Beiträgen ist ein Video entstanden, dass Ihr hier anschauen könnt: