Aufstieg auf den Säntis (2502m)

Mein Motto „Immer mal was Neues“ ist fast schon publik und so war es auch am Donnerstag, den 16. August 2018, als ich mich diesmal ohne Tandem, aber dafür mit Wanderschuhen zu einem Aufstieg auf den 2502 Meter hohen Säntis in den Schweizer Alpen aufmachte.

Zugegeben, bis auf die sogenannte Schwägalb (1200 Meter Höhe) konnte man mit dem Auto fahren und das haben wir ausgenutzt. Doch dort hörte der fahrbare Weg dann endgültig auf. Man konnte sich noch nicht einmal mehr vorstellen, dass sich an dieser schier unendlich hohen, grauen Felswand ein Weg verstecken sollte, obwohl klar war, dass es einen gab. Trotzdem war mir etwas mulmig zumute, als es losging. Würde ich die Tour konditionell schaffen? Bin ich belastbar, mutig, sicher und entspannt genug? Kann ich meinem Begleiter wirklich absolut vertrauen? Selbst, wenn man einen Triathlon gemacht hat, bereits im Steinbruch geklettert ist, sich im Rudern versuchte und immer wieder anspruchsvolle Mountainbike-Rennen mit dem Tandem mitfährt – man zweifelt doch jedes Mal wieder neu.

 

Ein Glück ging es erstmal auf einen „Wiesenweg“, und auch als es allmählich felsiger wurde, war es wesentlich einfacher als gedacht – das ist blind gar nicht so schwer, wie es wirkt, man muss einfach nur auf die Anweisung der sehenden Begleitung hören und den Fuß auf den nächstgelegenen zum Drauftreten geeigneten Stein setzen. Wenn am Wegesrand (wenn man diese Gerölllandschaft „Weg“ nennen kann) ein Seil gespannt war, konnte ich komplett selbstständig daran entlanglaufen, genau wie mein Begleiter auch. Ich liebte diese Etappen, weil wir in dieser Zeit absolut gleichberechtigt waren und meine Blindheit für Außenstehende in keinster Weise zu Tage trat. Gleichzeitig war ich jedes Mal stolz darauf, den vorbeilaufenden Wanderern zeigen zu können: „Ich sehe nichts und bin trotzdem eine von euch!“

Nichts desto trotz ließ aber natürlich die Kraft im Laufe der Zeit nach. In diesem Zusammenhang war und bin ich sehr dankbar für die drei Pausen, die wir immer nach etwa einer Stunde Fußmarsch einlegten. Durch Energieriegel und ein kohlenhydratreiches Vesper gelangte ich immer wieder zu neuer Kraft und Motivation. Bei einer Berghütte in bereits über 2000 Metern Höhe, bei der wir unsere letzte Pause machten, erzählte uns der Gastwirt, der während der Wandersaison auch dort wohnt, dass er für seinen Haushalt nur das Regenwasser zur Verfügung hat und einmal in der Woche zu Fuß ins Tal hinabsteigt, um einzukaufen – das muss man sich mal vorstellen: Da hat man kaum Luftlinie, nur ganz viel Höhe, und das Leben der Menschen hängt wirklich von der Natur ab – kein Regen, kein Wasser!

Etwas nachdenklich setzte ich meinen Weg nach dieser Schilderung fort. Nach der dort erworbenen Cola fühlte ich mich wieder fit und leistungsstark und war mir nun so sicher wie nie, den Gipfel zu erreichen. Doch immer deutlicher zeichnete sich eine ganz andere Problematik ab: Die Zeit. Zwar habe ich wahrlich keine Gehbehinderung, aber schon allein das Suchen geeigneter Steine und das Ausführen der Anweisungen der sehenden Begleitung sorgen für ungeahnte Zeitabweichungen. Bestes Beispiel dafür: Der Weg von der Hütte zu einer Stütze der Bergbahn, an der man auch aus- und zusteigen kann. Der Wegweiser zeigt für diesen Weg 25 Minuten an, bei uns dauerte es knapp unter einer Stunde. Da wir im Bezug auf den Weg ins Tal von der Bergbahn abhängig waren und diese nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit fährt, war das Beenden der Wandertour an der Stütze unabdingbar. So forderten wir wohl oder übel die Bergbahn an, stiegen an der Stütze zu und ließen uns die letzten 250 Meter (die wandertechnisch die schwierigste Etappe der gesamten Tour gewesen wären) hochfahren. Im ersten Moment überwog die Enttäuschung, es nicht komplett geschafft zu haben, als ich oben ankam, doch als ich kurz darauf der Beschreibung der Aussicht lauschen durfte, war ich einfach nur noch glücklich. Ich war oben auf dem Gipfel, und wenn die Bergbahn später gefahren wäre, wäre ich zu Fuß oben angekommen, denn der Koordination, Kraft und Ausdauer für das restliche Stück des Weges hätte ich mir – sagen wir zu 95 Prozent – sicher sein können. Und ganz ehrlich: An einer Stütze anstatt an einem regulären Bahnhof der Bergbahn einzusteigen, erlebt man auch nicht alle Tage.

Irgendwie war ich für einen Moment doch ein bisschen traurig, dass ich nicht sehen konnte, denn die Aussicht muss der Beschreibung nach unglaublich gewesen sein. Beim Wandern allerdings hat mich die Blindheit in keinster Weise behindert – im Gegenteil: Sie hat mich nur noch mehr darin bestärkt, fremden und vielleicht erstmal unmöglich erscheinenden Dingen offen zu begegnen und sich von seiner Einschränkung nicht einschränken zu lassen.

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