Von Freitag, dem 01.02.2019 bis Sonntag, dem 03.02.2019 nahm ich an einem Seminar zum Thema „Den Alltag selbstbestimmt bewältigen“ teil, welches im KVJS-Tagungszentrum in Güldstein (nahe Herrenberg) stattfand. Die Seminargruppe bestand aus zehn teils geburtsblinden, teils späterblindeten Erwachsenen zwischen 17 und 85 Jahren, die Anregungen und Inspirationen im Hinblick auf die Bewältigung des Alltags als Mensch mit Seheinschränkung und den sich daraus ergebenden verschiedenen Facetten bekommen wollten.
Am Freitagnachmittag trafen sich alle, die mit dem Zug anreisten, am Bahnhof in Herrenberg, an dem wir von einem Mitarbeiter des Tagungszentrums abgeholt und zu unserer Unterkunft gefahren wurden. Die Zeit bis zum Abendessen nutzten wir zum Beziehen unserer Zimmer. Das ganze Haus ist mit Blindenleitstreifen ausgestattet und die Mitarbeiter/innen halfen uns beim Essenholen am Buffet sowie bei der Wegfindung innerhalb des Gebäudes, was den Aufenthalt auch für diejenigen, die keine sehende Begleitperson mitgebracht hatten, sehr barrierefrei machte. Um 19.30 Uhr trafen wir uns dann in unserem Seminarraum. Nach einer Vorstellungsrunde erläuterten die beiden ebenfalls blinden Seminarleiterinnen Ablauf sowie inhaltliche Schwerpunkte des bevorstehenden Wochenendes. So bekam man schon mal einen Vorgeschmack auf das vielseitige und praxisorientierte Programm, bevor man zum weiteren Kennenlernen bei einem Getränk mit den anderen Teilnehmer/innen ins Gespräch kommen konnte. Wir konnten uns gut aufeinander einstimmen – und so erwarteten wir die kommende Zeit mit Freude und Spannung.
Nach einem reichhaltigen Frühstück stiegen wir am nächsten Tag richtig ein. Im Laufe der zwei Seminartage kamen wir auf allerlei spannende Dinge zu sprechen. Dabei bekamen wir bei jedem Thema durch unsere Seminarleiterinnen einen Überblick über die jeweiligen Möglichkeiten und tauschten uns dann über unsere eigenen Erfahrungen aus, um uns gegenseitig zu inspirieren. Daneben konnten wir in praktischen Übungen die Inhalte vertiefen. Beim Thema „Identifikation von Lebensmitteln“ erprobten wir beispielsweise, was man allein durchs Tasten erkennt und wo man tastbare Kennzeichnungen benötigt. Durch ein Sortiment mit rund 70 Lebensmitteln, bei denen von Senf und Ketchup über Duschgel und Shampoo, Nudeln, Brotaufstrich und -aufschnitt bis hin zu Müsli, Nüssen und Schokolade alles vertreten war, konnten wir ein Gefühl dafür bekommen, was man markieren muss und was man an anderen Kriterien wie beispielsweise an der Oberflächenstruktur, am Material oder am Inhalt (diesen kann man manchmal durch die Verpackung hindurch spüren oder man erzeugt durch schütteln ein Geräusch) erkennen kann. Außerdem haben wir Strategien kennengelernt, mit denen man sich Dinge kennzeichnen kann (Moosgummibuchstaben, Klebe-Punkte, die es in verschiedensten Größen und Formen gibt, Blindenschriftbeschriftung oder auch über elektrische Hilfen).
Bevor man Lebensmittel identifizieren und gegebenenfalls markieren kann, muss man sie aber erstmal einkaufen und deshalb haben wir auch die Frage „Welche Möglichkeiten hat eine blinde Person beim beschaffen von Lebensmitteln?“ beantwortet. Die Antwort ist sehr vielseitig: Alleine gehen und alles abtasten, was jedoch sehr zeitaufwendig ist, die Unterstützung durch technische Hilfen, Bestellung per Telefon, bei denen man je nach Ort und Geschäft die Ware sogar direkt nach Hause geliefert bekommt, einkaufen mit Assistenz, sei es in Form von Freunden,
Bekannten oder Familienmitgliedern oder auch Verkäufern oder anderen Kunden im Geschäft, und dann gibt es natürlich noch die Variante des Online–Einkaufens. Wir bekamen Erfahrungswerte an die Hand, wo es möglich ist, blind alleine einkaufen zu gehen und wo es eher schwierig
wird. Bei einem Marktstand oder in einer Bäckerei beispielsweise wird man von den Menschen hinter der Theke bedient, weshalb das für eine blinde Person überschaubarer ist als das Zusammensuchen des Einkaufs in einem großen Supermarkt mit vielen Regalen. Auch lernten wir eine Alternative zum Einkaufswagen kennen. Gerade das ist sehr wichtig für uns, da ein normaler Einkaufswagen für Blinde nur sehr schwer händelbar ist, wenn man allein unterwegs ist – eine tolle Motivation, auch mal was Neues auszuprobieren!
Ein weiteres wichtiges Thema war das Thema Kleidung: Wie schafft man es, dass die Socken, die zusammengehören, auch zusammenbleiben? Welche Möglichkeiten gibt es, um die Wäsche so zu sortieren, dass man für deren Verwaltung keine sehende Unterstützung benötigt? Und woher weiß ich überhaupt, was ich anziehe? Ein kleiner Tipp: Auch für die Erkennung von Farben eines Kleidungsstücks gibt es verschiedene Möglichkeiten: Manche Stoffe fühlen sich, je nach Farbe, unterschiedlich an und es gibt auch Farberkennungsgeräte und Apps, die hier Abhilfe schaffen – wobei bei der Nutzung der Apps ein guter Umgang mit der Handykamera vorausgesetzt wird. Mit einer entsprechenden App haben wir deshalb geübt, wie man das iPhone halten muss, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Diese Übung ist wichtig, denn so kann man in einer Hilfesituation alternativ auch über Videotelefonie eine sehende Person hinzuziehen. Und: Viele blinde Menschen, die einen eigenen Haushalt führen, kennen das leidige Thema des Briefkastenleerens und des Analysierens und Verwaltens des sich darin befindenden Papierkrams – und wie macht man das, wenn man die Briefe nicht lesen kann? Genau so, denn Texterkennungs-Apps lesen einem alles vor – vorausgesetzt, man beherrscht die Handykamera.
Hat man dann die Unterlagen gelesen, muss man manche in den Akten abheften – und auch hierfür gibt es Systeme, wie man trotz rein visuellem Inhalt auch ohne zu sehen den Überblick behält.
Nicht zuletzt spielen auch völlig banale Dinge eine Rolle: Wenn ich von einer sehenden Person Besuch habe und diese benutzt das Licht, woher weiß ich dann als Person ohne jeglichen Sehrest, ob, wenn die Person sich verabschiedet hat, das Licht noch an oder wieder aus ist? Zum Schluss besuchte uns eine Rehalehrerin, die das Fach „Lebenspraktische Fähigkeiten“, die Grundlage für eine selbstständige Lebensführung, unterrichtet. Sie klärte uns darüber auf, welche Inhalte zu diesem Unterricht gehören (was sehr spannend war, da es ziemlich viel ist) und wie man solches Training beantragen kann. Gerade das, aber auch alle anderen Inhalte zeigen, dass man für Eigenständigkeit einstehen sollte und ermutigen jede einzelne Person, sich selbst zu vertrauen und niemals aufzugeben, da es für Dinge, die blind schier unmöglich scheinen, in vielen Fällen eine Lösung gibt.
Die Zeit außerhalb der Seminareinheiten nutzte ich, um die Seminarleiterinnen bei der Gassirunde mit ihren Blindenführhunden zu begleiten, einen Spaziergang durch den direkt am Tagungszentrum gelegenen Park zu machen oder diesen Artikel zu schreiben, und samstagabends trafen wir uns an der Bar, um uns über alles mögliche zu unterhalten und um ganz viel Spaß miteinander zu haben. Bei der Abschlussrunde waren wir uns einig, dass wir eine tolle Gruppe waren und großes Interesse an einem Folgeseminar besteht.
Ich persönlich fand das Wochenende klasse, super organisiert, inhaltlich toll ausgestaltet, sehr abwechslungsreich und informativ in lockerer Atmosphäre. Ich konnte viel für meinen Alltag mitnehmen und würde mich freuen, wenn ein Folgeseminar zustande kommt. Grundsätzlich finde ich, Inklusion hin oder her, spezielle Angebote für Menschen mit Sehbehinderung gerade im Hinblick auf diese Thematik zwingend erforderlich, da der Austausch mit Leuten, die die gleichen Herausforderungen haben wie man selbst, sehr wichtig ist und blinde Menschen durch ihr Handicap in vielen Dingen einfach besondere Bedürfnisse haben. Deshalb an dieser Stelle nochmal vielen Dank an das gesamte Personal des Tagungszentrums, das stets aufmerksam war und den Aufenthalt durch seinen Einsatz und seine Großzügigkeit sehr angenehm gemacht hat, an die tolle Seminarleitung und die sehende Assistenz, die uns mit Rat und Tat zur Seite stand und an die anderen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer, die so offen und aufgeschlossen waren, dass wir trotz der großen Altersspanne und den verschiedenen Erfahrungen und Schicksalen eine Gemeinschaft, in der alle gleichberechtigt waren, waren!