Wie ich Musik mache

Immer wieder komme ich mit sehenden Musikern ins Gespräch. Dabei kommt eigentlich immer irgendwann die Frage auf: Wie machst Du eigentlich Musik? Gibt es eine Notenschrift für Blinde? Die Antwort gibt es in diesem Beitrag.

 

Von der Blindennotenschrift

Es gibt eine Blindennotenschrift, die – wie die Blindenschrift selbst auch  von Louis Braille entwickelt wurde. Es werden regelmäßig Kurse angeboten, in denen blinde Menschen Blindennotenschrift lernen können. Ich selbst habe die Blindennotenschrift im Musikunterricht an der Blindenschule gelernt. Außerdem gibt es Lehrbücher in Blinden- und Schwarzschrift, in denen man langsam und mit vielen praxisnahen Übungen an die Zeichen (eine Kombination aus Buchstaben, Zahlen, Sonderzeichen und speziellen Musiksymbolen) herangeführt wird. Ich habe auch so ein Lehrbuch, mit dem ich – gerade, als wir das Thema im Musikunterricht behandelten – mit meinem sehenden Klavierlehrer sehr viel gearbeitet habe, was wunderbar funktioniert hat. Es gibt inzwischen in den Blindenbüchereien ein umfangreiches Sortiment an Musikalien in Blindennotenschrift, das man sich ausleihen oder kaufen kann. Das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen in Leipzig nimmt bei Bedarf auch individuelle Übertragungen von Schwarzschriftnoten in Braillenoten vor.

Im Grunde genommen finde ich die Idee, eine spezielle Notenschrift für Blinde zu entwickeln, nicht allzu schlecht. Ich persönlich finde das Arbeiten damit allerdings ziemlich umständlich. Während ein Sehender die Noten vor sich liegen hat und diese parallel zum Spielen des Instruments lesen kann, muss ein Blinder zunächst die Noten lesen, analysieren, was das praktisch bedeutet, die Noten auswendig lernen – und erst dann kann er sie nachspielen. Ganz ehrlich: Bei klassischen, langen oder sehr komplizierten Stücken mag das vielleicht eine gute Methode sein, aber zumindest ich habe die allermeisten Lieder schneller nach Gehör gelernt.

 

Die Vorteile eines absoluten Gehörs

Sicherlich nicht ohne Grund haben sehr viele blinde Musikerinnen und Musiker (mich eingeschlossen) ein absolutes Gehör, können also jeden Ton exakt erkennen, die Tonhöhe genau bestimmen und die einzelnen Töne selbst dann noch heraushören, wenn mehrere Töne gleichzeitig gespielt werden. So fällt es Absoluthörern in der Regel sehr leicht, Lieder nachzuspielen. Ich kann zum Beispiel viele Lieder spielen, die ich nie gelernt, sondern einfach immer wieder gehört und mir unterbewusst eingeprägt habe. Ein ebenfalls blinder Klassenkamerad und ich haben unsere Musiklehrerin auch schon halb in den Wahnsinn getrieben, indem wir (natürlich mit möglichst originalgetreu klingendem Sound) am Keyboard die Schulglocke und diverse Handyklingeltöne nachgespielt haben.

Ich versuche, so viel wie irgendwie möglich nach Gehör zu machen. Eine sehr wichtige Unterstützung ist hier mein Diktiergerät. Wenn ich ein neues Lied beim Klavierlehrer lerne, spielt er mir das Lied auf das Diktiergerät auf, sodass ich es daheim jederzeit nachhören kann. Manche Lieder lerne ich auch komplett alleine, indem ich sie mir Takt für Takt langsam erarbeite – das mache ich aber nur bei leichteren Stücken, denn die Akkorde eines Liedes herauszuhören ist etwas ganz anderes als das Identifizieren der einzelnen Töne. Auch wenn mir eine Melodie für ein mögliches neues Lied in den Sinn kommt, nehme ich sie – nach Möglichkeit sofort – mit meinem Diktiergerät auf. Wenn das nicht geht – bei der Arbeit beispielsweise -, schreibe ich mir die Melodie ganz schlicht in Blindennotenschrift auf und spiele sie dann daheim ein. Die Melodien speichere ich dann in einem bestimmten Ordner ab, sodass ich sie immer wieder nachhören oder erweitern kann.

Und auch bei Jam Sessions hat ein absolutes Gehör nur Vorteile. Zum einen kann ich sehr schnell auf das, was andere spielen, reagieren, ohne dass man mir groß sagen muss, was ich wann machen soll. Bei einer Jam Session war es einmal so, dass einer anderen Person, die ein bestimmtes Lied singen wollte, die Originaltonart zu hoch war. Da ließ ich sie einfach mal anfangen, konnte aus ihrem ersten Ton auf die Tonart schließen und – ohne bewusst darüber nachzudenken – das Lied spontan entsprechend transponieren und begleiten. Wenn ich mich gut konzentriere, kann ich meine Ukulele auch ohne mein Keyboard oder E-Piano stimmen, weil ich die genaue Tonhöhe im Ohr habe, und so wurde ich auch schon damit beauftragt, vier Ukulelen aufeinander einzustimmen. Das absolute Gehör sorgt für hohe Flexibilität, Spontanität und Anpassungsfähigkeit.

 

Probleme beim Musizieren

Durch das Spielen nach Gehör bin ich gegenüber vielen Sehenden previligiert. Allerdings gibt es auch hier noch Barrieren. Wenn ich beispielsweise mit meinem Klavierlehrer ein bestimmtes Lied lernen will, suche ich mir auf YouTube eine für mich ansprechende Version raus, die gut klingt und die meiner Einschätzung nach für mich auch spielbar ist. Häufig gestaltet es sich aber als sehr schwierig, die Noten von exakt dieser Version zu finden, damit mein Klavierlehrer überprüfen kann, ob ich auch alles richtig herausgehört habe. Ein weiteres Problem ist, dass ich aktuell keine unkomplizierte und wirklich zufriedenstellende Möglichkeit kenne, um Schwarzschriftnoten in akustische Töne umzuwandeln. Mir als nicht gerade begeisterte Notenleserin bringt eine Übertragung der Schwarzschriftnoten in Braillenoten nicht unbedingt einen Mehrwert. Es gab mal eine App, die nach einem ähnlichen Prinzip funktionierte wie meine Texterkennungs-Apps, nur dass sie eben keinen Text, sondern eine Tonspur als Scanergebnis ausgab, diese wird aber nicht mehr unterstützt und sobald die Stücke ein bisschen komplizierter wurden, passte das erkannte Ergebnis nicht mehr. Und: Die Übertragung von Schwarzschriftnoten in Braillenoten ist ja möglich, aber umgekehrt kann man es nur über ei einziges Programm machen, das ziemlich teuer ist und bei dem sich – wenn man es nicht ständig brauch – der Kauf einfach nicht lohnt. Dadurch suche ich auch hier noch nach einer Lösung, mit der ich Braillenoten – beispielsweise die Akkorde von meinen eigenen Liedern – in Schwarzschriftnoten übertragen kann.

 

Zusammengefasst:

Es gibt eine Blindennotenschrift, die ich theoretisch auch kann. Da ich sie jedoch kaum anwende, habe ich inzwischen wahrscheinlich schon wieder die Hälfte verlernt. Ich setze mein Gehör ein, wo es nur geht, und trainiere es aktiv durch verschiedene Übungen zur Gehörbildung. Ja, selbst in der Musik gibt es manchmal noch Barrieren, gerade bei der Übertragung von Braillenoten in Schwarzschriftnoten oder von Schwarzschriftnoten in Audio-Files, trotzdem ist die Musik etwas, bei dem Blinde gegenüber Sehenden keinerlei Nachteile haben und bei dem beide Seiten wunderbar und absolut gleichberechtigt zusammenarbeiten und voneinander profitieren können.